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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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Beatrice hatte den Eindruck, dass er, den normalerweise nichts auf der Welt erschüttern konnte, in diesem Augenblick wirklich sprachlos war. Aus dem Handy erklang eine ungeduldige Stimme.
    »Hallo? Hallo? Wo ...«
    »Ich ... Es hat sich erledigt. Danke und Entschuldigung für die Störung.« Er klappte das Handy zusammen und schob es in die Tasche seiner Lederjacke. »Beatrice, ich ...«
    »Komm herein.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihn an sich vorbeizulassen.
    »Du musst schon entschuldigen, dass ich hier so hereinplatze, aber ...« Er schluckte und betrachtete sie aufmerksam von Kopf bis Fuß. »Geht es dir gut?«
    Beatrice überlegte einen Augenblick. Ging es ihr gut? Sie hatte gerade eine Reise über mehrere Jahrhunderte hinweg hinter sich. Sie hatte ein heiliges Kleinod erhalten, auf das sie fortan aufpassen sollte. Sie hatte den Mann, den sie liebte, in der Vergangenheit zurückgelassen und wusste nicht, ob ihre Tochter den Sprung in die Gegenwart ebenfalls geschafft hatte. Ging es ihr gut? Nein. Sie fühlte sich hart am Rande des Wahnsinns. Und doch ging es ihr auch nicht schlecht. Nicht so schlecht jedenfalls, wie es ihr angesichts der Lage hätte gehen können. Deshalb zuckte sie mit den Schultern und bot Thomas einen Platz auf dem Sofa an.
    »Deine Eltern haben bei uns im Krankenhaus angerufen«, sagte er und zerdrückte eine bereits ziemlich zerknautschte Packung Zigaretten noch mehr. »Sie waren ziemlich aufgelöst. Sie erzählten, du seist nach Hause gefahren, weil du Nachforschungen über die Ursache von Michelles Koma anstellen wolltest. Sie hätten versucht dich telefonisch zu erreichen, aber du würdest dich nicht melden.«
    Beatrice verspürte einen schmerzhaften Stich.
    »Was ... Ist etwas mit Michelle?«
    »Nein. Der Zustand der Kleinen ist unverändert - wenigstens sind das meine letzten Informationen von vor etwa einer halben Stunde. Sie haben sich um dich Sorgen gemacht.« Er fuhr sich durchs Haar. »Natürlich habe ich sie beruhigt. Aber ich habe daran gedacht, wie durcheinander du warst. Und ich fürchtete, dass ... dass du dir ... Ich meine ...«
    Beatrice lächelte. Thomas Breitenreiter, der kaltschnäuzigste Chirurg der Abteilung, der Schrecken aller Studenten und Schwestern, der Einzige, der dem Chef in jeder Hinsicht ebenbürtig war, saß vor ihr wie ein Häuflein Elend am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er war irgendwie rührend in dieser völlig unerwarteten Rolle des von Hilflosigkeit und Besorgnis gebeutelten ... Ja, was eigentlich? Kollegen? Freundes? Oder sogar mehr?
    »Mir geht es gut«, sagte sie und nahm ihm behutsam die zerknüllte Zigarettenschachtel aus der Hand. »Die solltest du wegwerfen. Was da drin ist, taugt bestimmt höchstens noch zum Selberdrehen.«
    »Bewundernswert«, erwiderte er, und sie wusste, dass er es ernst meinte. »Wenn ich mir vorstelle, Michelle wäre meine Tochter. Ich weiß nicht, ob ich so einen klaren, kühlen Kopf bewahren könnte.«
    Glaube mir, ich auch nicht, dachte Beatrice. Aber das ist eben so, wenn man am Rande des Abgrunds steht und aus der Tiefe der Wahnsinn winkt ...
    In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Das Geräusch zuckte durch Beatrices Körper wie ein Blitz, und ihre Selbstbeherrschung fiel von einer Sekunde zur nächsten ab.
    »Bitte, Thomas, bitte, tu mir den Gefallen, geh du ans Telefon«, sagte sie mit kläglicher Stimme.
    Doch seine Hand zitterte kaum weniger, als er den Hörer ergriff und sich meldete. Dann hielt er ihn ihr hin.
    »Deine Eltern. Aus dem Krankenhaus.«
    »Was ist los?«, fragte Beatrice und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, ohne den Hörer zu nehmen. Ihre Stimme klang seltsam fremd, schrill und hysterisch. »Was ist mit Michelle? Sag du es mir, bitte, Thomas. Ich könnte es nicht ertragen, durch dieses anonyme, technische Dings ...«
    Thomas nickte. Er war blass. Seine Finger spielten nervös mit der Telefonschnur, und er musste sich nicht weniger als dreimal räuspern, bevor er seine Stimme im Griff hatte. Dann jedoch klang sie normal, so wie immer, wenn er sich vom OP aus auf einer der Stationen nach dem Befinden eines seiner Patienten erkundigte.
    »Beatrice ist nicht in der Lage, selbst ans Telefon zu kommen. Bitte sagen Sie mir, worum es geht, ich werde es ihr sofort mitteilen.« Er hörte zu, sah dabei starr aus dem Fenster und kaute auf seiner Unterlippe, wie er es immer tat, wenn er nicht gerade eine Zigarette oder einen Kugelschreiber zur Hand hatte, auf denen er herumkauen
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