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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Autoren: Daniel Dekkard
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Studium aufzunehmen.“
Und mit der Vorfreude eines Kindes auf die Bescherung am Heiligen Abend stand er jeden Morgen vor dem Briefkasten. Beschenkt wurde er mit einer Reihe Postkarten, die den Weg seiner Eltern illustrierten. Gibraltar, Zypern, Suez, Goa, Ceylon, Sumatra, Malakka. Am 3. Januar 1988 riss die Kette ab. An diesem Tag kam keine Postkarte, sondern ein Telegramm. Es tönte lauter, als die Stimme in seinem Inneren es je vermocht hatte. Unverzüglich packte er seine Sachen und nahm das nächste Flugzeug nach Singapur.
Das Ergebnis meiner Nachforschungen stellte sich mir in einem Punkt als unbefriedigend dar. Es erklärte nicht im Ansatz, warum ein Schamane im Dschungel von Borneo Gegenstände verwahrt hatte, die für mich bestimmt sein sollten. Die Lösung für dieses Rätsel konnte nur in Leonard Finneys Bericht selbst enthalten sein.

Kapitel 3
    Januar 1988, Singapur
    Das Kuvert erregte sofort Leonards Misstrauen. Der alte Chinese, immer noch einziges Zeugnis von Leben im Hotel Old Empire, hatte es ihm am Morgen übergeben.
„Post von andere Finney.“
Argwöhnisch betrachtete Leonard den Klebestreifen der Lasche. Es sah aus, als sei der Brief geöffnet und unachtsam wieder verschlossen worden. Ein Verdacht vergiftete die Erleichterung, ein Lebenszeichen von seinen Eltern zu empfangen. Jemand überwachte ihn. Der Gedanke steigerte sein dumpfes Gefühl, die Geisel dieses leeren Hotels zu sein. Nur der Hunger hatte ihn aus dem Bett gescheucht, die Lähmung gelöst, die ihn an das düstere Zimmer fesselte. Die Helle des Tages gönnte ihm nur eine Verschnaufpause wie der Freigang im Innenhof eines Gefängnisses.
Unschlüssig stand er vor dem Hoteleingang. Das Old Empire servierte kein Frühstück und das zwang ihn, ein Lokal aufzusuchen. Das Hotel lag zwischen Little India und Kampong Glam, dem alten Malaien-Viertel Singapurs. In dieser Gegend existierten, wie im weiter südlich gelegenen Chinatown, noch Straßenzüge mit zweigeschossigen shophouses aus der Kolonialzeit. Ein Gewirr schmaler Straßen, flankiert von bunten Stuckfassaden mit schattigen Arkadengängen und Ziegeldächern. Einer Eingebung folgend wandte Leonard sich dem Bezirk der Inder zu. Wie in der gestrigen Nacht kam ihm alles vertraut vor und gleichzeitig fremd, traumartig verzerrt. In seinem Gedächtnis klaffte eine Lücke. Sie schloss sich mit einem Knall, als er die chinesische Apotheke erreichte.
    Er war dort drinnen gewesen! Am Tag seiner Ankunft, als ihm ein höllischer Schmerz den Schädel gespaltet hatte wie von einem Axthieb. Leonard sah das Innere nicht zum ersten Mal. Den klobigen Verkaufstresen, der den Raum der Länge nach durchmaß. Die Gläser darauf, gefüllt mit pechschwarzen, sirupähnlichen Tinkturen, Tierknochen und getrockneten Insekten. Die überladenen Vitrinen und Regale, Tiegel und Töpfchen voll Kräuter, Wurzeln und Pulver. Die bauchigen Flaschen, in denen Schlangenhäute herumschwammen und in giftgrüne Flüssigkeit getauchte Gliedmaßen von Kröten und Eidechsen. In der hintersten Ecke hatte sie gesessen wie eine Statue, die man vor Jahren an diese Stelle platziert und seitdem nicht mehr fortbewegt hatte. Eine Frau, die faltige Haut so dunkel wie das Holz der Wandverkleidung. Die Zeit in seinem Innern raste drei Tage zurück, als er, vom Kopfschmerz geplagt, die Apotheke betreten hatte.
    „Komm näher.“
Ihre brüchige Stimme besaß einen seltsam vertraulichen Ton. Verzweifelt kämpfte Leonard gegen das Hämmern unter der Schädeldecke.
„Entschuldigen Sie. Haben Sie was gegen Kopfschmerzen?“
„Komm näher“, wiederholte sie.
Verdammt, die kapierte nicht. Mit den Händen seine Schläfen reibend trat Leonard auf sie zu und redete langsam, die einzelnen Silben betonend wie zu einem Kind.
„Kopfschmerzen. Verstehen Sie? Kopf-schmer-zen.“
Dicht vor ihr blieb er stehen und stutzte. Sie musste weit über siebzig Jahre alt sein. Ihre Augen jedoch strahlten mit dem übermütigen Glanz der Jugend. Als hielte die verdorrte Hülle die Seele einer jungen Frau gefangen. Ein Lächeln überstrahlte ihr runzliges Gesicht.
„Ich wusste, du würdest mich nicht vergessen.“
Wegen ihres harten Akzentes glaubte er, sich verhört zu haben. Oder sein dröhnender Schädel spielte ihm einen Streich.
„Was? Wovon reden Sie?“
„Du hast versprochen, zurückzukommen“, fuhr sie unbeirrt fort, „und nun bist du hier.“
Verrückt, dachte er. Sie ist verrückt.
„So lange gewartet“, sagte sie seufzend.
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