Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
Sie erzählt, sie beschreibt, ganz ruhig, ganz exakt, voller Vertrauen … Sie unterbrach sich kurz, dann traute sie sich zu sagen: Sie schreibt
so mutig … oder gelassen … oder vielleicht tapfer über Verlust und Trauer.
    Sie schwieg betreten, da begann er zu sprechen, die Augen immer noch auf das Glas gerichtet, in dem mittlerweile keine Bläschen mehr aufstiegen.
    Ich habe sie kennengelernt, als sie wieder in Boston lebte. Worcester hat sie ja nie recht geliebt, war dort nicht glücklich. Nicht so wie in Key West oder Brasilien. Ich war noch auf der Highschool und habe gelesen und gerudert. Und dann bin ich nach Cambridge gefahren, wo sie, wenn er nicht da war, Robert Lowells Klasse übernahm, und habe mich da reingeschmuggelt. War auch auf einer ihrer Lesungen und habe sie auch angesprochen … Und in dem Jahr, in dem ich dann aufs College kam, in Boston, da ist sie gestorben … Da bin ich rudern gegangen, auf unserem See, dem Lake Quinsigamond. Da war mein Verein. Doppelzweier bin ich gerudert. Haben Sie mal eine Ruderregatta gesehen?
    Hélène schüttelte den Kopf, aber er sah es nicht.
    Es ist - wie Wildenten, die auf dem See landen. Das Wirrwirr der Flügel und das Zischen, wenn sie übers Wasser gleiten, die Hälse hoch und weit nach vorn. So hört sich ein Skullboot in vollem Tempo an, so sieht es aus. Ich bin Doppelzweier gerudert, weil ich das Gekrähe des Steuermanns nicht mag. Nur du und der andere. In einer Bewegung verbunden durch eine unsichtbare Kuppelstange. Der leicht brackige Geruch des Sees. Das Geräusch, mit dem die Mulde im Wasser, das Luftloch, das dein Blatt gerissen hat, sich beim Abscheren wieder schließt. Dort ist das Wasser einen Moment lang vollkommen glatt, wie glasiert. Und dann der hell- und dunkelgrüne
Streifen der Bäume am Ufer, der vorübergleitet, dahinter die Häuser, weiß, und weit fort ein leises Aufund Abrauschen, die rufenden und lachenden Menschen am Ufer - was wollte ich jetzt eigentlich sagen?
    Hélène lachte. Eigentlich wollten Sie über Elizabeth Bishop sprechen, aber vielleicht haben Sie das ja schon getan …
    Ja, als ich aufs College kam, wiederholte der Amerikaner, da starb sie. Damals kannte sie noch kaum jemand. Sie liegt in Worcester begraben. Ob sie das gewollt hat? Waren Sie schon einmal in Massachusetts?
    Hélène schüttelte den Kopf. Ich war überhaupt noch nie in Amerika.
    St. John’s hieß meine Schule. Oder heißt sie noch. In Shrewsbury am anderen Seeufer. War Aragon nicht Kommunist?, fragte er unvermittelt, auf Hélènes Buch deutend.
    Sie nickte. Ja, und sogar Stalinist. Hurra Ural und solche Sachen. Ein ziemlich trübes Kapitel. Die typische Geschichte des intellektuellen Außenseiters, der sich nach Bindung sehnt und sich, kaum hat er sie gefunden, gleich zum unversöhnlichen Gralshüter und Siegelbewahrer und Türsteher der Coterie aufschwingt. Einerseits. Andererseits hat er die schönsten Verse geschrieben, die ich kenne. Ich mag dieses Buch hier besonders gerne wegen der Brocéliande-Gedichte.
    Brocéliande? Eine Frau?, fragte der Amerikaner.
    Hélène lachte. Nein. Ein Wald. Die Frau hieß Elsa. Ein Wald in der Bretagne. Ein sagenumwobener Wald. Es ist nicht mehr viel davon übrig. Angeblich das Reich Merlins, des Magiers aus der Artus-Sage. Dort hat er sich in
die Fee Viviane verliebt und wurde von ihr für immer an diesen Ort gebannt, in einen Teich, einen Baum … Die Romantiker suchen heute noch nach der Stelle. Angeblich ist es La source de Barenton, eine Quelle … Gewiss, verglichen mit Bishop ist viel Pathos in den Gedichten, aber es gibt eben auch Konstellationen, die Pathos gebieten, finden Sie nicht? Augustnacht heißt das Gedicht, das ich meine: O l’épaisse toison d’étoiles sur nos têtes. Hm, wie soll man das übersetzen? O dichtes Sternen-Vlies über unseren Köpfen vielleicht? Ce soir d’août le ciel d’aînesse échoit aux mains d’audace. Das Erstgeburtsrecht auf den Himmel fällt an den Waghalsigen? Ich weiß nicht. Jedenfalls, wer eine Augustnacht in der Bretagne erlebt hat, den langsam kreisenden Sternenreigen, der versteht, was er beschwört. Nein, verstehen tut man’s nicht, man spürt es unter der Haut …
    Er bestand darauf, ihr noch einen Kaffee zu holen. Sie verstand, dass er damit, ohne sie darum bitten zu müssen, das Gespräch verlängern und verhindern wollte, dass sie aufbrach. Sie hatte gar nicht vor, auf ihr Zimmer zu gehen.
    Als er wieder saß, sagte sie: Aber selbst die eindeutigeren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher