Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
aufmerksam geworden wären.
    Auch würden Hélènes ewige Überstunden ein Ende haben, es war in diesen Möbelgeschäften aufgrund schlechter Arbeitsorganisation und moralischen Gruppendrucks unmöglich, pünktlich Feierabend zu machen, und fast ebenso unmöglich, hinterher die obligatorische Aufforderung zum Pot auszuschlagen, dem Umtrunk nach der Arbeit, zu dem die Belegschaft sich geschlossen in eines der nahegelegenen Cafés verfügte, sodass Hélène kaum einen Abend einmal vor zwanzig Uhr zu Hause war.
    Der Geschäftsführer des Möbelhauses, ein Herr Bensoussan, tat, als Hélène ihm ihre Absicht bekanntgab, was er in anderthalb Jahren nie getan hatte: Er bot ihr eine Gehaltserhöhung an, da er, wie er sagte, auf ihren Geschmack bei der Auswahl und Zusammenstellung von Stoffen, Farben und Mustern für Polstermöbel und Accessoires nicht verzichten könne.
    Die verblüffte und auch geschmeichelte Hélène erbat sich einen Tag Bedenkzeit, aber am Abend rechnete ihr
Mann mit ihr noch einmal durch, wie oft sie das Krankenhaus würde aufsuchen müssen und wie sehr während der Behandlung ein gewisses ruhiges Gleichmaß der Lebensführung gefordert war, und so kündigte sie zum Jahresende.
    Die drei Monate nach dem ersten Besuch bei Le Goff waren mit Tätigkeit gefüllt: Sie mussten beide diversen Beratungen zuhören und medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen, Aids- und Hepatitis-Tests, Blutbilder, Hormonanalysen, Spermiogramm, Immunobead-Test, Hysterosalpingographie, mussten Fragebögen ausfüllen, das Dossier für die Privatversicherung zusammenstellen und zur Genehmigung einreichen und sich anhand mehrerer Broschüren und Bücher in die technischen und ethischen Aspekte der medizinisch assistierten Prokreation und ihrer Alternativen einlesen.
    Ein obligatorischer Termin im amerikanischen Hospital brachte sie mit einer Psychologin zusammen, der sie erzählten, warum sie diesen Weg beschreiten wollten, anstatt entweder auf Kinder zu verzichten oder es mit einer Adoption zu versuchen, wovon allerdings selbst ihre Gesprächspartnerin ihnen aufgrund der administrativen Schwierigkeiten, um nicht zu sagen Schikanen abriet.
    Im November des Jahres war es so weit, dass Hélène zum ersten Mal mit der Stimulation beginnen konnte. Nach einer Woche hatte sie einen Kontrolltermin in der Fivète, und das war genau der Tag, an dem sie, weil sie etwas zu früh gekommen war, unten im Empfangsbereich wartete und jener Mann vor ihren Augen zusammenbrach.

    Das zweite Mal, dass sie ihm begegnete, war etwa vier Wochen später, Anfang Dezember. Es war der Tag der Follikelpunktion. Am Vormittag hatte Le Goff ihr unter leichter Sedierung das Ultraschallgerät mit der Hohlnadel eingeführt und die Follikel abgesaugt. Der Arzt hatte dafür plädiert, dass Hélène, obwohl es medizinisch nicht unabdinglich war, den Rest des Tages sowie die Nacht im Krankenhaus verbrachte, natürlich ohne zu strikter Bettruhe verpflichtet zu sein, aber doch mit der Auflage, sich zu schonen und sich möglichst wenig zu bewegen.
    Ihr Mann war in der Gewissheit, sie in guten Händen zurückzulassen, zur Arbeit gefahren, und Hélène, die keine Lust hatte, alleine im Zimmer zu hocken - schließlich bin ich ja nicht krank, im Gegenteil, sagte sie der Stationsschwester -, saß in der hellen, weiträumigen und zur Hälfte mit leise plaudernden Menschen gefüllten Cafeteria des Krankenhauses vor dem modernen Anbau und blickte ab und zu von ihrem Buch auf, hinaus in den winterlich kahlen Garten.

E r war es, der sie entdeckte. Er hatte ebenfalls in einem Buch gelesen oder besser: geblättert, es immer wieder aufgeschlagen, es umgedreht vor sich hingelegt, um sich geblickt, es wieder aufgenommen, es wieder hingelegt. Schließlich geriet sie in den Fokus seines irrenden Blicks, lesend, konzentriert, in sich ruhend. Eine Tasse Kaffee stand vor ihr auf dem Tisch, daneben eine Schachtel Zigaretten, ein Plastikfeuerzeug darauf. Von Zeit zu Zeit rutschte ihr eine Haarspitze in den Mundwinkel, und sie nahm sie gedankenverloren zwischen die Lippen wie einen Grashalm.
    Er schlug sein Buch zu, nahm es in die linke Hand, stand auf, ging zu ihrem Tisch hinüber und machte eine Verbeugung. Sie blickte auf, zwischen ihre erstaunt hochgezogenen Brauen grub sich eine kleine fragende Längsfalte. Er trug einen blauen, einreihigen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte. Das braune Haar war kurz geschnitten.
    Entschuldigen Sie, sagte er im Stehen. Sie werden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher