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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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unheilbare Fälle zu klassifizieren, in »Schlimmer dran als ich« oder »Weniger schlimm dran als ich«.
    Es war die Art anonymen Mitleids, die einem den Magen verkrampft und uns im Anblick alter, zum Betteln verurteilter Menschen, weinender Kinder oder misshandelter Hunde anfällt. Der Blick des Mannes, nur der Blick, nicht das Gesicht, nicht der dazugehörige Körper, hatte
sich in ihre Augen gebrannt, als hätte sie zu lange in die grelle Sonne gesehen. Sie hörte noch das tonlose I’m terribly sorry, das er in ihre Richtung gesprochen hatte, bevor man ihn den Korridor hinuntergeleitete, wobei der Pfleger - unnötigerweise, wie es schien - die Hand unter seinen Ellbogen schob. Er drehte sich noch zweimal nach ihr um, bevor er hinter einer Flügeltür verschwand.

E s war kurz nach Hélènes dreißigstem Geburtstag im Frühsommer des Jahres gewesen, dass sie und ihr Mann den Entschluss fassten, ärztliche Hilfe zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in Anspruch zu nehmen.
    Die Entscheidung für ein Kind war zugleich die Entscheidung für eine künstliche Befruchtung, denn Hélène wusste, dass sie infolge einer Salpingitis, die sie als Siebzehnjährige durchgemacht hatte, steril war. Sie hatte in den darauffolgenden Jahren, manchmal erleichtert, manchmal enttäuscht, festgestellt, dass sie nicht schwanger wurde, und dann die Diagnose gestellt bekommen, dass aufgrund von Komplikationen jener alten Entzündung ihre Eileiter verklebt waren.
    Im Anfang ihrer Beziehung zu ihrem zukünftigen Ehemann, vor allem im ersten Jahr, in dem die Erregung proportional war zur Unsicherheit - darüber wie ernst man selbst, wie ernst der andere es meinte, wie weit man ihm, wie weit man sich vertrauen konnte -, war diese Sterilität eine willkommene Sache, denn sie machte (nach wenigen und inkonsequenten, der grassierenden Aids-Angst geschuldeten Versuchen mit Kondomen) jede Form lusthemmender oder beschwerlicher Verhütung unnötig.
    Als sie sich einer des anderen sicher waren und, vorerst noch jeder für sich, gemeinsame Zukunftsbilder zu
entwerfen begannen, glaubte ihr zukünftiger Ehemann insgeheim, den »Fluch«, das »Problem«, mit Willenskraft, mit Glück, mit wohlwollender Hilfe von oben auf dem natürlichen Weg bannen und überwinden zu können. Zu diesem Zeitpunkt planten sie zwar kein Kind, hätten eine Schwangerschaft aber, wäre es dazu gekommen, beide begrüßt. Doch die Natur ließ sich weder zwingen noch bestechen noch überlisten. Da heirateten sie.
    Auf ihren sonntäglichen Spaziergängen in den Buttes-Chaumont brachte er das Thema auf. Meistens fuhren sie mit der Metro bis République, gingen den Uferweg am Canal Saint-Martin hinauf von Schleuse zu Schleuse, bogen an der futuristischen, weißen Suppenschüssel der KP-Zentrale in die Avenue Mathurin Moreau und erreichten von dort bergauf den Westeingang des Parks.
    Sie schlenderten den Höhenweg entlang, vorüber an der halb von Rhododendron zugewucherten Bank der alten Armenier und der benachbarten der alten Aschkenasen. Sie überquerten die im Volksmund scherzhaft so genannte Selbstmörderbrücke, passierten den Vesta-Tempel und blickten von der Hängebrücke direkt auf den Guignol, das verwitterte Kasperletheater am Seeufer hinab. Die Töchter bürgerlicher Familien, hochaufgeschossene Elfjährige in marineblauen Kleidern, deren dünne Fohlenbeine in weißen Kniestrümpfen steckten, warteten geduldig und sittsam auf die nächste Vorstellung. Rannte eine von ihnen einem Ball nach, vollführte ihr Pferdeschwanz auf dem Rücken wilde Pendelschläge. Auf Bänken im Schatten der Trauerbuchen vor dem Sandkasten saßen junge Mütter, ihre altertümlichen,
hochbauenden Kinderwagen mit Speichenrädern neben sich abgestellt, und lasen.
    Am Spätnachmittag, zurück in ihrer Wohnung, liebten Hélène und ihr Mann sich nach diesen Spaziergängen oft, bereiteten dann in der Küche gemeinsam das Abendessen zu und hörten dabei Musik.
    Hélènes Frauenärztin riet ihr, es entweder im Hôpital Antoine-Béclère in Clamart oder im Hôpital Américain in Neuilly zu versuchen. Die beiden französischen Pioniere der künstlichen Befruchtung, die vor einigen Jahren das erste französische Retortenbaby zur Welt gebracht hatten, arbeiteten der eine im einen, der andere im anderen dieser beiden Krankenhäuser.
    Hélènes Mann war sofort für das amerikanische Hospital, aus einem Bauchgefühl heraus, wie er selbst zugab. Der Name flößte Vertrauen ein, stand für Effizienz und
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