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Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2
Autoren: Clive Barker
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begreifen, nicht als politisches oder religiöses, sondern als System der Sinne: ein System, das das lebende Fleisch genauso einschloß wie das träge Holz ihres Schreibtisches und das schale Gold ihres Eherings.
    Und mehr noch. Mehr als Holz und Gold. Der Spalt, der zu einer Verkehrsader führte, klaffte auf. Im Kopf hörte sie Stimmen, die aus keinem lebenden Mund kamen, Sie blickte nach oben, oder genauer: irgendeine Macht riß ihr gewaltsam den Kopf zurück, so daß sie plötzlich zur Decke hinaufschaute. Die war von Würmern bedeckt. Nein, das war unsinnig! Aber die Decke schien lebendig zu sein, ein Madenleben zu führen - sie pulsierte, tanzte.
    S’ie konnte den Jungen durch die Decke hindurch sehen. Er saß auf dem Boden und hielt sein aufgerichtetes Glied in der Hand.
    sein Kopf war zurückgeworfen wie ihrer. Er war hingegeben in seinen Taumel wie sie. Ihr neues Sehvermögen nahm das zuckende Licht in und um seinen Körper wahr - es umkreiste die Leidenschaft, die in seinen Eingeweiden saß, und seinen Kopf, der vor Wollust zerschmolz.
    Und eine ganz andere Einsicht erschloß sich ihr, die Verlogen-heit, die in ihm steckte, das Fehlen jeglicher Begabung genau dort, wo sie etwas Wunderbares vermutet hatte. Er hatte gar nicht die Macht, mit Geistern in Verbindung zu treten, und er hatte sie auch nie gehabt, das sah sie nun ganz genau. Er war ein kleiner Lügner, ein Lügenbubi, ein süßer, blasser Lügenbubi ohne das Gefühl oder die Einsicht zu begreifen, was er zu tun gewagt hatte.
    Jetzt war das Maß voll. Die Lügen waren ausgesprochen, die Tricks waren durchgespielt, und die Menschen auf der Verkehrsader, über den Tod hinaus gekränkt über diese Verfäl-schung und Verspottung, schwirrten um den Spalt in der Wand und forderten Genugtuung.
    Diesen Spalt hatte sie geöffnet: Sie hatte ahnungslos an ihm herumgefingert und -gefummelt und ihn langsam aufklaffen lassen. Ihr Verlangen nach dem Jungen hatte das bewirkt: Ihr endloses An-ihn-denken, ihre Frustration, ihre Geilheit und ihr Ekel vor dieser Geilheit hatten den Spalt immer weiter auseinandergezogen. Von allen Kräften, die das System erfahrbar machten, waren die Liebe und mit ihr verschwistert die Leidenschaft und wiederum mit beiden verschwistert der Verlust die mächtigsten. Und sie, war sie nicht die Verkörperung von allen dreien? Sie liebte, und sie begehrte, und sie spürte überdeutlich die Vergeblichkeit von beidem. Sie war gänzlich verstrickt gewesen in eine Höllenqual des Gefühls, die sie vor sich verleugnet hatte, weil sie glaubte, den Jungen einfach nur als ihren Mittler zu lieben.
    Das stimmte nicht! Das stimmte nicht! Sie wollte ihn haben, wollte ihn jetzt haben, tief in ihr. Nur, daß es jetzt zu spät war.
    Der Verkehr ließ sich nicht mehr verleugnen: Er forderte, ja er forderte freien Zugang zu diesem kleinen Luder.
    Sie war gänzlich unfähig, das zu verhindern. Nur einen winzigen grauenerfüllten Seufzer brachte sie noch zustande, als sie sah, wie sich die Verkehrsader weit vor ihr auseinanderfaltete, und sie begriff, daß das keine alltägliche Kreuzung war, an der sie standen.
    Fuller hörte den Laut.
    »Frau Doktor?« Er schaute von seinen Apparaten auf, und sein Gesicht, von einem blauen Licht übergössen, das sie aus den Augenwinkeln erkennen konnte, hatte einen prüfenden Ausdruck angenommen. »Haben Sie was gesagt?« fragte er, Mit einem Völlegefühl im Magen dachte sie daran, wie das hier unweigerlich enden mußte.
    Die Äthergesichter der Toten waren ganz deutlich vor ihr. Sie konnte die Tiefe ihres Leids sehen, und sie konnte Mitgefühl empfinden für ihre hörbare Qual.
    Sie sah deutlich, daß die Bahnen, die sich am Tollington Place kreuzten, keine alltäglichen Durchgangsstraßen waren. Was sie da erblickte, war nicht der sorglose, dahintrödelnde Verkehr der üblichen Toten. Nein, dieses Haus führte zu einer Strecke, die nur von den Opfern und den Vollstreckern der Gewalt beschritten wurde: den Männern, den Frauen, den Kindern, die unter all jenen Qualen gestorben waren, die auszudenken ein menschliches Hirn überhaupt in der Lage war, und in deren Bewußtsein die Umstände ihres Todes unauslöschlich einge-brannt waren. Beredsamer als alle Worte verkündeten ihre Augen die Höllenschmerzen, und ihre Geisterkörper waren noch von den Wunden gezeichnet, an denen sie gestorben waren. Auch konnte sie im zwanglosen Nebeneinander mit den Unschuldigen deren Schlächter und Folterer erblicken. Diese Ungeheuer, diese
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