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Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman

Titel: Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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murmelte irgendetwas vor sich hin und stempelte die zwei Papiere ab. Mr. Gilbert sagte, damit sei das erledigt, und er müsse sich sputen, wenn er noch nach Winnetka kommen wolle. Mr. Babcock sagte, er wohne im University Club, und falls Norah noch etwas von ihm wolle, könne sie ihn dort erreichen. Wir schüttelten uns noch mal die Hand, und Mr. Gilbert wiederholte, ich sei ein » guter Soldat « . Dann setzten sie ihre Strohhüte auf und gingen.
    Als wir beide allein waren, sagte Norah, ich sei ein braves Kind, was ich davon hielte, wenn wir jetzt hinunter in den Marine Room gingen und lecker zu Abend äßen und uns anschließend einen Vitaphone-Tonfilm ansähen.
    Damit war mein Vater endgültig gestorben.
    Ich hatte nicht viel Gepäck. Unsere Hotelsuite bestand aus einem großen Wohnzimmer und drei Schlafzimmern, die Möbel stellte das Edgewater Beach Hotel. Die einzigen Nippsachen, die mein Vater besaß, waren ein Paar silberne Herrenfrisierbürsten und zwei Fotografien. » Hat gelebt wie ein Zigeuner, dein Vater « , sagte Norah.
    So sehr gewöhnt hatte ich mich an die beiden Fotos, dass ich sie nie beachtet hatte. Eines zeigte meine Mutter, die bei meiner Geburt gestorben war. Das andere Foto stellte eine Frau mit blitzenden Augen dar, mit einem Schultertuch aus spanischer Spitze und einer Rose hinterm Ohr. » Ganz die Italienerin, wie die aussieht « , sagte Norah. Das war meine Tante Mame.
    Norah und Mr. Babcock gingen die persönliche Habe meines Vaters durch. Er nahm alle Dokumente an sich, die goldene Uhr und die Perlenmanschettenknöpfe meines Vaters sowie den Schmuck, der meiner Mutter gehört hatte, um ihn so lange aufzubewahren, bis ich alt genug war, dass ich » etwas damit anfangen « konnte. Die Anzüge meines Vaters bekam der Zimmerkellner. Seine Golfschläger, mein Spielzeug und meine alten Bücher gingen an die Wohlfahrt. Dann nahm Norah die Bilder von meiner Mutter und von Tante Mame aus den Rahmen und schnitt sie zurecht, dass sie in meine Gesäßtasche passten. » Damit du das Antlitz deiner Lieben immer an deinem Herzen trägst « , erklärte sie.
    Es war alles getan. Bei Carson, Pirie, Scott’s kaufte Norah mir einen Traueranzug aus leichtem Tuch und für sich einen ausladenden Hut. Mr. Gilbert und » die Firma « trafen alle Vorkehrungen für unsere Reise nach New York. Am dreizehnten Juni waren wir startbereit.
    An den Tag unserer Abreise aus Chicago erinnere ich mich deswegen, weil ich noch nie so spät aufbleiben durfte. Die Hotelangestellten veranstalteten eine Sammlung und schenkten Norah einen maßgearbeiteten Reisekoffer aus Krokodilleder, einen Rosenkranz aus Malachitperlen und einen großen Strauß American-Beauty-Rosen. Ich bekam ein Buch, Bibelgestalten, die jedes Kind kennen sollte – Altes Testament. Norah führte mich durchs Haus, damit ich mich von allen Kindern verabschiedete, die im Hotel wohnten, und um sieben Uhr brachte der Zimmerservice – mit den besten Wünschen vom Koch – unser Essen hoch, das aus drei verschiedenen Desserts bestand. Um neun Uhr bat Norah mich, mir noch einmal Gesicht und Hände zu waschen, bürstete meinen neuen Traueranzug ab, steckte eine Sankt-Christopherus-Nadel an meine Unterhose, weinte, setzte ihren neuen Hut auf, weinte, nahm eine letzte kurze Inspektion des Zimmers vor, weinte und nahm in dem Hotelbus Platz.
    Es war nicht schwer zu erkennen, dass eine Fahrt im Luxusreisezug für Norah genauso ungewohnt war wie für mich. Verschüchtert bewegte sie sich in unserem Abteil, und als ich den Wasserhahn am Waschbecken aufdrehte, kreischte sie kurz auf. Sie las mir alle Warnschilder laut vor, ermahnte mich, dem elektrischen Ventilator nicht zu nahe zu kommen und die Toilettenspülung nicht zu betätigen, bevor der Zug losfuhr. Das Beste sei es, die Toilette überhaupt nicht zu benutzen, führte sie aus– wer weiß, wer vorher darauf gesessen hätte.
    Wir hatten einen kleinen Streit darüber, wer in der oberen Koje schlafen sollte. Ich wollte gerne, aber Norah war unerbittlich. Als sie beim Erklimmen des oberen Etagenbettes beinahe gestürzt wäre, freute ich mich hämisch, aber sie meinte, lieber würde sie zu Grunde gehen, als nach einer Leiter zu läuten und sich dem schwarzen Mann in ihrem Nachthemd zu zeigen. Um zehn Uhr setzte sich der Zug in Bewegung, und ich lag in meiner Koje und sah zu, wie die Lichter der South Side vor meinem Fenster vorbeiglitten. Ich war eingeschlafen, noch ehe wir Englewood Station erreicht hatten, es war das
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