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Cyboria - Die geheime Stadt

Cyboria - Die geheime Stadt

Titel: Cyboria - Die geheime Stadt
Autoren: P. D. Baccalario
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Livorno.
    »Nein!«, schrie er auf. Sein Herz begann wie verrückt zu klopfen. »Das darf nicht sein!«
    Er schob seine Mutter zur Seite und stürzte zum Zimmer seines Großvaters.

18
Der letzte Gruß
    I m Zimmer war es stickig und heiß. Durch die Ritzen der Läden vor den geöffneten Fenstern drang kaum ein Lufthauch.
    Primo Folgore Perotti lag lang ausgestreckt auf dem Bett, bis unter die Nase mit einem Leintuch bedeckt. Auf dem Kissen wirkte sein Kopf wie eine alabasterfarbene Kugel, in der zwei kleine Augen leuchteten.
    »O-Opa?«, flüsterte Otto und strich mit der Hand über den hölzernen Türpfosten. Der unebene Holzdielenboden knarrte und schien sich unter seinen Füßen zu biegen, wie eine bösartige Kreatur, die ihn zu Fall bringen wollte. »Opa?«
    Der Alte antwortete nicht. Das Bett, das Zimmer, der Brustkorb seines Großvaters, alles schien stillzustehen.
    Oh, nein.
    Das durfte nicht sein. Nicht jetzt. Nicht nach dem, was ihm heute mit dem Fahrrad gelungen war. Er wollte es ihm unbedingt erzählen.
    Nicht jetzt , dachte Otto, du schaffst das, Opa.
    Er trat einen halben Schritt nach vorne und wurde vom Dunkel des Zimmers eingehüllt. Der stechende Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten lag in der Luft, dazu der süßliche Duft von alten Menschen, die in ihrem Bett gepflegt werden.
    Sein Großvater hielt die Augen starr auf die Decke geheftet. Ein unerträglicher Anblick, aber Otto versuchte sich Mut zu machen.
    Er ging zum Sessel neben dem Bett und sprach ihn ein drittes Mal an. Dann dachte er: Jetzt drehst du den Kopf zu mir, nicht wahr? Du drehst den Kopf und lächelst mich an. Und ich erzähle die Geschichte vom Sprung über den Kanal.
    Er war fest überzeugt, dass sein Opa es tun würde. Zwischen ihnen herrschte eine so starke Verbindung, dass sie keine Worte brauchten, um zu kommunizieren. Ein unzerreißbares Band aus verständnisvollen Blicken und wenigen, vertrauten Gesten. Und Zahlen. Und Spielen. Und Schach. Und Rätseln. Und Tieren. Und den lateinischen Namen der Pflanzen. Sie hatten unzählige gemeinsame Leidenschaften, weitergegeben vom Großvater an den Enkel, aber es gab noch so viel zu lernen.
    Die Hand des Jungen legte sich behutsam, fast andächtig, auf das Leintuch.
    Obwohl das Zimmer überhitzt war, überfiel ihn plötzlich ein Gefühl eisiger Leere, lähmende Kälte kroch ihm wie eine Schlange den Rücken hinab.
    Er drückte leicht auf den Bettrand. »Großvater?«
    Primo Folgore Perotti erwachte schlagartig, wandte den Kopf und sah seinen Enkel an.
    Die eiskalte Schlange glitt zu Boden, vielleicht löste sie sich auch ganz einfach auf. Otto seufzte erleichtert. Er hatte einen Kloß im Hals und murmelte so etwas wie: »Donnerwetter, Großvater … Verdammt … Ich dachte, du …«
    Statt einer Antwort lächelte der alte Mann schwach, hob die Hand und zeigte drei Finger.
    »Drei?«, fragte Otto. »Drei was?«
    Primo lächelte weiter. Noch zwei weitere Male hob er die Hand.
    »Drei. Sechs. Neun …«
    Jetzt zeigte sein Großvater vier Finger.
    »Vier.«
    Dann wieder drei, zwei Mal hintereinander.
    Jetzt hatte Otto verstanden und lächelte ebenfalls. »Neun, vier, sechs …«, zählte er auf, »dann wieder drei, oder?«
    Müde ließ der Großvater die Hand wieder sinken. Zufrieden schloss er die Augen und öffnete sie dann mühsam wieder, als würde diese einfache Geste ihn unendlich viel Kraft kosten.
    Otto näherte sich dem Kopfkissen und sagte: »9463 Milliarden Kilometer pro Jahr. Lichtgeschwindigkeit. Die Geschwindigkeit der Familie Folgore.« Unser Familienname Folgore bedeutet nämlich Blitz.
    Der Großvater drehte ihm wieder den Kopf zu, die Haut an seinem Hals war fast durchsichtig. Verblüfft hob er die Augenbrauen.
    »Nun, zumindest eines großen Teils der Familie Folgore«, lachte Otto, der die Meinung seines Großvaters zu diesem Thema kannte.
    Aber trotz dieses Lachens wollte der Kloß in seinem Hals einfach nicht verschwinden.
    Primo nickte, doch dann tat er etwas sehr Eigenartiges: Er sah Otto auf eine Art und Weise an, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Als würde er in diesen Blick all das legen, was er ihm noch nicht gesagt hatte, ihm aber gerne noch sagen wollte. Alle Antworten auf die Fragen, die Otto ihm noch nicht gestellt hatte. In Primos Erinnerung tauchte die Lorenzi-Nacht vom 10. auf den 11. August des vergangenen Jahres auf, als sie beide auf dem Hügel übernachtet hatten, um die Sternschnuppen zu zählen. Und die Bücher über Pflanzen und
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