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Crash

Crash

Titel: Crash
Autoren: J. G. Ballard
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die im Vorhof einer Autobahnraststätte wartete, eine Teilzeitplatzanweiserin im Kino, die andauernd wegen des defekten Hörgerätes ihres kleinen Sohnes jammerte. Als die beiden hinter mir im Wagen saßen, beschwerte sie sich bei Vaughan über meinen hektischen Fahrstil, doch er betrachtete ihre Bewegungen mit abstraktem Blick und ermutigte sie fast dazu, mit Händen und Füßen zu gestikulieren. Ich wartete an der Balustrade auf dem Dach eines Parkhauses in Northolt. Vaughan legte die Kassiererin wie eine Sterbende auf die Rückbank des Wagens. Sein kräftiger Körper, der im Licht vorüberhuschender Scheinwerfer über ihr kauerte, nahm eine Reihe stilisierter Stellungen ein.
    Vaughan entfaltete das ganze Ausmaß seiner Besessenheit von der geheimnisvollen Erotik von Unfallwunden vor mir: die perverse Logik blutgetränkter Armaturenbretter, mit Exkrementen beschmierter Sicherheitsgurte, mit Hirnmasse verkrusteter Sonnenblenden. Für Vaughan verursachte jeder Verkehrsunfall Schauer des Entzückens: in der komplexen Geometrie eines verbeulten Kotflügels, in den unerwarteten Variationen eingedrückter Kühlergrills, im grotesken Über hang eines losgelösten Armaturenbretts, das sich wie in einem gewollten Akt maschinellen Fellatios zwischen die Beine eines Fahrers gebohrt hatte. Das persönliche Schicksal eines einzelnen Menschenwesens war für die Ewigkeit in diesem Netz aus Chrommessern und geborstenem Glas fossiliert.
    Eine Woche nach dem Begräbnis der Kassiererin fuhren wir an der Westgrenze des Flughafens durch die Dunkelheit, als Vaughan plötzlich auf den Gehweg schleuderte und einen riesigen Köter überfuhr. Der Aufprall des Körpers, der einem gedämpften Hammerschlag glich, und der Regen von Glassplittern, als das Tier über das Dach des Wagens geschleudert wurde, überzeugten mich davon, daß wir bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen würden. Vaughan hielt niemals inne. Ich beobachtete ihn beim Beschleunigen des Wagens: Sein vernarbtes Gesicht befand sich dicht an der geborstenen Windschutzscheibe, und er strich sich zornig Perlen zerschellten Glases von den Wangen. Seine Gewaltakte waren bereits so willkürlich geworden, daß ich selbst nicht mehr als ein gefesselter Zuschauer war. Und doch erläuterte mir Vaughan am nächsten Morgen auf dem Dach des Parkhauses, wo wir den Wagen abstellten, in jeder Einzelheit die Dellen auf der Motorhaube und dem Dach des Autos. Er sah einem Flugzeug voller Touristen nach, das sich in den westlichen Himmel erhob, wobei sein fahles Gesicht wie das eines sehnsüchtigen Kindes strahlte. Die langen, dreieckigen Ausbuchtungen im Blech des Wagens rührten vom Tod eines unbekannten Geschöpfes her, seine ausgelöschte Identität war in der Geometrie dieses Fahrzeuges abstrahiert worden. Wie viel geheimnisvoller mußten erst unsere eigenen Tode sein, oder gar die der Prominenten und Mächtigen?
    Doch jener erste Todesfall ist unbedeutend, vergleicht man ihn mit denen, an denen Vaughan später teilhatte, und jenen imaginären Toden, die ständig in seinem Verstand herumspukten. Beim Versuch, sich zu erschöpfen, ersann Vaughan einen entsetzlichen Almanach imaginärer Automobilunfälle und aberwitziger Wunden - von Türgriffen durchbohrte Lungen älterer Männer, von Lenksäulen aufgespießte Brüste junger Mädchen, von Chromeinfassungen der Kontrollichter aufgerissene Wangen stattlicher junger Männer. Für ihn waren diese Wunden die Schlüssel zu einer neuen, von einer perversen Technologie geborenen Sexualität. Die Bilder dieser Wunden hingen in der Galerie seines Verstandes wie Schaustücke im Museum eines Schlachthofes.
    Wenn ich heute an Vaughan denke, wie er unter den Scheinwerfern der Polizeiautos im eigenen Blut ertrunken ist, fallen mir die unzähligen imaginären Desaster wieder ein, die er mir erzählte, während wir die Schnellstraßen um den Flughafen entlangfuhren. Er träumte von Botschaftslimousinen, die mit wie Klappmesser zusammenklappenden Butantankern zusammenstießen, von Taxis mit feiernden Kindern, die kopfüber in die hellen Schaufenster von Supermärkten hineinstürzten. Er träumte von entfremdeten Geschwistern, die einander zufällig in Fahrzeugen auf Kollisionskursen auf den Zufahrtstraßen zu petrochemischen Fabriken begegneten, ihr unterbewußter Inzest von kollidierendem Metall explizit gemacht, von ihrer blutigen Gehirnmasse in Kompressionskammern aus Aluminium und auf Kolben und Ventilen. Vaughan erdachte Massenkarambolagen
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