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Crash

Crash

Titel: Crash
Autoren: J. G. Ballard
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sogenannten Realität angewendet werden.
    Zieht man all diese Veränderungen in Betracht, so muß man sich fragen, wo dann die Hauptaufgabe für den Schrift steller liegt? Kann er sich überhaupt noch der Techniken und Perspektiven des traditionellen Romans des neunzehn ten Jahrhunderts bedienen, der gekennzeichnet ist durch eine lineare Erzählform, eine abgemessene Chronologie und konsularischen Figuren, die ihre Domänen innerhalb fixer Parameter von Raum und Zeit bewohnen? Kann sein Thema die tief in der Vergangenheit verwurzelte Quelle von Cha rakter und Persönlichkeit, die langsame Erkundung dieser Wurzeln und die subtilste Nuancierung sozialen Verhaltens und persönlicher Beziehungen sein? Verfügt der Schriftstel ler überhaupt noch über die moralische Autorität, eine un abhängige und abgeschlossene Welt zu erfinden, um dann wie ein Beobachter über seine Figuren zu herrschen, deren Fragen er alle schon im voraus kennt? Kann er alles weg lassen, das nicht zu begreifen er vorzieht, eingeschlossen seine eigenen Motive, Vorlieben und seine Psychopatholo gie?
    Ich persönlich bin der Auffassung, daß sich die Rolle des Schriftstellers, seine Autorität und sein Recht zu handeln, drastisch gewandelt haben. Ich bin gewissermaßen der An sicht, daß der Schriftsteller nichts mehr weiß. Er hat keinen moralischen Standpunkt. Er bietet dem Leser den Inhalt seines eigenen Kopfes, er breitet eine Anzahl von Möglich keiten und imaginären Alternativen vor ihm aus. Seine Rolle ist die des Wissenschaftlers, auf Safari oder im Laboratori um, der sich mit einem völlig unbekannten Subjekt oder Ter rain konfrontiert sieht. Er kann lediglich verschiedene Hypothesen erstellen und sie mit den Fakten abwägen.
    Crash ist so ein Buch, eine extreme Metapher für eine ex treme Situation, ein Bündel verzweifelter Wertmaßstäbe für Krisensituationen. Wenn ich recht habe - und ich habe mich in den zurückliegenden Jahren bemüht, die Gegenwart für mich selbst neu zu entdecken -‚ dann nimmt Crash eine Posi tion als Katastrophenroman der Gegenwart in einer Linie mit meinen früheren Schilderungen von Katastrophen der nahen und nahesten Zukunft, etwa The Drowned World (Karneval der Alligatoren), The Droght (Welt in Flammen) und The Crystal World (Kristallwelt), ein.
    Aber selbstverständlich befaßt sich Crash nicht mit einem imaginären Desaster, sondern mit einer allgemein verbreite ten Katastrophe, die in allen Industrienationen institutiona lisiert ist, in denen Jahr für Jahrhunderte und Tausende von Menschen getötet und Millionen verletzt werden. Sehen wir selbst im Autounfall das unheimliche Omen einer alptraum haften Verbindung von Sex und Technologie? Versorgt uns die moderne Technologie mit Mitteln und Möglichkeiten, unsere Psychopathologien auszuleben, von denen wir bisher nicht zu träumen wagten? Liegt in dieser Nutzbarmachung unserer brachliegenden Perversion ein Nutzen für uns? Liegt ihr eine trotzige Logik zugrunde, die mächtiger als jede Vernunft ist?
    Ich habe in Crash das Automobil nicht nur als sexuelles Sinnbild dargestellt, sondern auch als Metapher für das Leben der Menschen in der modernen Gesellschaft. Daher hat das Buch auch eine sehr politische Rolle, die nichts mit dem sexuellen Inhalt zu tun hat, aber ich würde Crash trotz dem als ersten pornographischen Roman ansehen, der auf der Technologie basiert. In gewissem Sinne ist die Porno graphie die politischste Form von Literatur, denn sie befaßt sich damit, wie wir uns gegenseitig auf die ruchloseste und schonungsloseste Weise ausbeuten und benützen.
    Es erübrigt sich wahrscheinlich zu sagen, daß Crash in erster Linie eine Warnung sein soll, eine Warnung vor den brutalen, grell erleuchteten Gefilden, die sich immer deutli cher an den Randgebieten der technologischen Landschaft abzeichnen.
    J. G. Ballard

    Kapitel Eins

    Vaughan starb gestern bei seinem letzten Verkehrsunfall. Im Verlauf unserer Freundschaft hatte er seinen Tod bei vielen Unfällen geprobt, doch dies war sein einziger echter Unfall. Sein Wagen, der sich auf Kollisionskurs mit der Limousine der Filmschauspielerin befand, durchbrach die Leitplanke der Überführung des Londoner Flughafens und prallte in einen Bus mit Flugpassagieren. Als ich mir eine Stunde später einen Weg durch die versammelten Polizisten bahnte, lagen die zerschmetterten Körper der Touristen immer noch wie ein Blutsturz der Sonne zwischen den Vinylsitzen. Die Schauspielerin Elizabeth Taylor stand alleine
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