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Cotton Reloaded - Folge 1 - Der Beginn

Cotton Reloaded - Folge 1 - Der Beginn

Titel: Cotton Reloaded - Folge 1 - Der Beginn
Autoren: Mario Giordano
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Tumult nicht.
    Gegen den Strom spurtest du weiter die Treppen hinauf, aber im 56. Stock flutet Rauch das Treppenhaus, und selbst von hier spürst du bereits die Gluthitze. Im 61. Stock ist dann Schluss. Der Rauch wird zu dicht, die Hitze unerträglich. Ein Mann mit Schnittwunden im Gesicht hält dich fest, brüllt dich an, dass da oben alles in Flammen stehe. Du willst zu Mum und Dad und Laura, hast aber keine Chance. Du kommst nicht mehr weiter. Die einzige Hoffnung ist, dass sie es irgendwie noch ins Treppenhaus geschafft haben, oder dass sie gar nicht im Turm sind ...
    Ja, das ist es! Sie haben sich vertrödelt, haben noch länger als sonst auf dich gewartet, sind zu spät losgefahren und sitzen jetzt ahnungslos irgendwo in der U-Bahn, während du hier gerade in der Scheiße steckst.
    Du hörst, wie eine völlig verstörte Frau etwas von einem Flugzeug brabbelt, aber das glaubst du nicht, obwohl sie behauptet, die Maschine sogar noch gesehen zu haben. Du glaubst es einfach nicht. Du stellst dir nur Mum, Dad und Laura in der U-Bahn vor und machst, dass du runterkommst.
    Es geht nur langsam voran. Keine Panik, nur Schock und Ratlosigkeit. Ein Mann hat sogar noch seinen Kaffeebecher in der Hand. Du willst nur noch raus aus dem Turm, aber dann hörst du die Frau rufen. Ihre Stimme dringt schwach aus einem der Büros ins Treppenhaus. Sie ruft um Hilfe, stetig und in gleichmäßigen Abständen wie ein automatisches Notsignal. Aber es ist kein Signal, es ist eine menschliche Stimme. Warum hilft der Frau niemand?
    Du überlegst kurz, verlässt den Flur und suchst nach ihr. Ätzender Rauch hängt wie Wolken unter der Decke und sickert in die Flure. Wer hier gearbeitet hat, ist längst im Treppenhaus. Nur diese Frau nicht, deren Stimme unerschütterlich um Hilfe ruft.
    Sie steckt im Fahrstuhl fest, der auf halber Höhe zwischen dem 60. und 61. Stock stecken geblieben ist. Ein Wunder, dass die Stahlseile noch halten, bei der mörderischen Hitze da oben.
    »Keine Sorge, Ma’am, ich bin da!«, rufst du ihr durch die halb offene Tür zu. Du kannst sie sehen. Sie ist Mitte vierzig, elegantes Businesskostüm, kurze dunkle Haare.
    Und sie sitzt im Rollstuhl.
    Ach du Scheiße, auch das noch.
    »Sind Sie verletzt?«
    »Nein. O Gott, endlich kommt jemand.«
    »Wie ist Ihr Name, Ma’am?«
    »Sarah Granger ... Sarah.«
    »Bleiben Sie ganz ruhig, ich hol Sie da raus.«
    Du stemmst die Fahrstuhltür weit genug auf, dass du in die Kabine kriechen kannst. Du ziehst die Frau raus. Du weißt nicht mehr, wie du die Kraft aufgebracht hast, aber du befreist Sarah Granger aus der gottverdammten Kabine.
    Sie ist viel leichter, als du gedacht hast. Als sie schließlich keuchend neben dir im Flur liegt, gibt es ein hässliches Geräusch im Fahrstuhlschacht, ein metallisches Schnappen, ein Sirren, Stahl, der auf Stahl schrammt.
    Dann geht die Kabine ab, rauscht in die Tiefe.
    »Danke, Junge«, sagt Sarah tonlos.
    Du musst sie tragen, den ganzen Weg, die ganzen Treppenstufen, Stockwerk für Stockwerk. Ein Mann kommt dir zu Hilfe, Theo, ein Grieche. Er ist Fensterputzer und wollte eigentlich ganz rauf, als es passierte. Gemeinsam tragt ihr Sarah hinab, wo die Luft allmählich besser wird. Aber es geht nur langsam voran. Im Treppenhaus hat sich eine Schlange gebildet, die sich nur träge nach unten windet. Erst im 11. Stock begegnet ihr den ersten Feuerwehrleuten. Unten in der Lobby wollen Sanitäter dir Sarah abnehmen, aber sie hält deine Hand fest, ganz fest. Und was machst du? Du entwindest ihr deine Hand und erklärst ihr, dass du und Theo bald nachkommen. Denn ihr wollt doch wieder rauf und nach weiteren Verschütteten suchen, das habt ihr unterwegs beschlossen.
    Sarah hat Angst um dich. Du spürst ihren Händedruck immer noch, als du mit Theo zurück in den Turm rennst. Ihr kommt nicht weit. Denn kurz darauf passiert, was alle Welt live mitverfolgt hat: `Der Nordturm stürzt zusammen, 102 Minuten nach dem Einschlag. Du hörst noch das Geräusch, als ob die Hölle sich öffnen würde – über dir . Der Turm schreit dir seine Agonie entgegen.
    Du blickst Theo an, voller Entsetzen.
    Dann wird alles schwarz.
*
    Jede Nacht, wenn du daran zurückdenkst, fragst du dich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn es schwarz geblieben wäre. Wenn du dort gestorben wärst. Begraben, zerquetscht und erstickt von Tausenden Tonnen Beton, Stahl, Elektroschrott, Verträgen, Memos, Kaffeetassen, Putzmitteln, Sandwiches und ID-Karten, vermischt mit den Leichen
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