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Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Autoren: Nicolas Remin
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die Nase
fand Monsieur Grenouille ziemlich brutal. Andererseits rundete er
— künstlerisch betrachtet — das Geschehen ab,
setzte gewissermaßen einen effektvollen Schlussakkord. Und
die Italiener hatten bekanntlich einen ausgeprägten Sinn
für theatralische Effekte.
    Der Commissario drehte
sich langsam um. Er zupfte sein Kavalierstuch zurecht, und einen
Moment lang hätte Monsieur Grenouille schwören
können, dass er sich verbeugen würde, aber er
beschränkte sich auf ein flüchtiges
Lächeln.
    «Ich will einen
Bericht, Bossi», sagte er zu dem uniformierten Ispettore, der
sich mit verwundertem Gesichtsausdruck genähert hatte.
«In einer halben Stunde in meinem Büro.» Der
Commissario warf einen angewiderten Blick auf den Fußboden,
bevor er sich zum Gehen wandte. «Und dann soll jemand das
Blut aufwischen.»

3
    Alvise Tron,
Commissario von San Marco, schob den Teller mit den
Schlagsahneresten und den Kuchenkrümeln zur Mitte seines
Schreibtischs und leckte die Kuchengabel sorgfältig ab. Dann
trank er einen Schluck Kaffee, lehnte sich auf seinem knarrenden
Sessel zurück - und staunte über sich selbst. Hatte er
diesen Mann in der Wachstube tatsächlich mit drei kraftvollen
Fußtritten unschädlich gemacht? Er? Dessen eigentliche Waffe das
geschliffene, wie ein Florett oder eine Kuchengabel geführte
Wort war? Hatte er die Gewalt über sich verloren? War die
wilde Bestie, die angeblich in jedem Mann lauert, unkontrolliert
ausgebrochen?
    Tron beugte sich
wieder nach vorne und leckte seinen Zeigefinger nass, um die auf
dem Teller verbliebenen Kuchenkrümel in seinen Mund zu
befördern. Dann trank er abermals einen Schluck Kaffee und kam
zu dem Schluss, dass er genau das getan hatte, was er sich
vorgenommen hatte. Nämlich seine Kritiker, speziell den
Stadtkommandanten Toggenburg, der eine «kraftvolle
Amtsführung» bei ihm vermisste, eines Besseren zu
belehren. Er verbringe zu viel Zeit in den Cafés an der
Piazza, sagte man ihm nach. Dort esse er jeden Vormittag Torte,
anstatt sich in der Questura um die venezianische Kriminalität
zu kümmern. So ein Unsinn! Schließlich gehörte es
zu seinen Pflichten, sich über die Stimmung im Volke zu
informieren. Und wo war die Stimme des Volkes besser zu vernehmen
als in den Cafés an der Piazza?
    Jedenfalls konnte er
heute mit sich zufrieden sein. Er hatte den Verrückten,
über dessen Mordabsicht kein Zweifel bestand, kraftvoll aus
dem Verkehr gezogen. Außerdem, überlegte er weiter, gab
der Umstand, dass sein Stiefel auf der Nase eines
Österreichers gelandet war, dem Vorgang eine patriotische
Note. Ein italienischer Absatz auf der Nase eines
Österreichers! Und wie die österreichische Nase danach
geblutet hatte! Keine Frage, dass die Leute auch deswegen
applaudiert hatten. Zwar hegte Tron keinerlei patriotische
Gefühle und galt unter den Anhängern der italienischen
Einheit als unsicherer Kantonist. Aber vielleicht war es klug,
sagte er sich, gelegentlich an die Zeit danach zu denken.
Schließlich konnten die Österreicher das Veneto nicht
auf ewig besetzt halten. Und ein Commissario, der allzu eng mit den
Besatzungsmächten verbandelt war, hatte schlechte Karten, wenn
das Veneto Teil des italienischen Königreichs werden
würde. Man könnte auf den Gedanken kommen, jemand anderen
als Commissario von San Marco zu installieren. Vielleicht Ispettor
Bossi? Den dynamischen Adepten     
    moderner
Polizeitechnik ? Der nie ein Hehl daraus gemacht
hatte, dass er den Abzug der Österreicher kaum erwarten
konnte?   
    Tron drehte den Kopf,
und sein Blick fiel auf die Lithografie des Kaisers, die
vorschriftsgemäß an der Wand jeder habsburgischen
Amtsstube hing. Mit der beginnenden Stirnglatze und dem dumpfen
Gesichtsausdruck bot Franz Joseph keinen besonders
majestätischen Anblick. Das Bild hing schief, und das Glas
hatte einen Sprung. Aber irgendwie, dachte Tron, hatte er sich
daran gewöhnt.
    *
    Fünf Minuten
später betrat Ispettor Bossi sein Büro. Er salutierte und
nahm auf dem Bugholzstuhl vor dem Schreibtisch Platz. Wie immer
wirkte der Ispettore, als wäre er gerade dem Bad entstiegen
und hätte sorgfältig Toilette gemacht. Seine schwarzen
Stiefel glänzten, auf seiner blauen Uniform war kein
Stäubchen zu erkennen, und die Sterne auf seinen
Schulterklappen funkelten. In der Hand hielt er seinen
Notizblock.
    «Wir haben sie
vorsichtshalber in verschiedene Zellen verfrachtet», sagte
Bossi. Er hatte sich so hingesetzt, dass seine penibel
gebügelte
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