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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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arbeiten und war dann tagelang oder gar wochenlang außer Haus. Da Signora Altavilla wiederum jedes Jahr im Juli mit ihrem Sohn und seiner Familie in die Berge fuhr, hatte Anna Maria die Schlüssel für unten, damit sie die Blumen gießen konnte und, wie Signora Altavilla bei der Übergabe gesagt hatte, »überhaupt für alle Fälle«. Sie hatten auch vereinbart, dass Anna Maria, wenn sie von einer Reise zurückkam und Signora Altavilla nicht zu Hause war, die Wohnung betreten durfte, um ihre Post zu holen.
    Sie nahm die Schlüssel aus der zweiten Schublade in der Küche, klemmte ihre Handtasche in die Wohnungstür, machte Licht und ging nach unten.
    Obschon überzeugt, dass niemand da war, drückte Anna Maria auf den Klingelknopf. Tabu? Rücksicht auf die Privatsphäre? Als niemand aufmachte, steckte sie den Schlüssel ins Schloss, doch wie so oft ließ er sich nicht ohne weiteres [13]  drehen. Sie versuchte es noch einmal, indem sie gleichzeitig an der Klinke zog und den Schlüssel bewegte. Vom Druck ihrer Hand ging die Klinke nach unten, und es stellte sich heraus, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war, denn sie schwang widerstandslos auf und zog Anna Maria einen Schritt in die Wohnung hinein.
    Als Erstes dachte sie an Costanzas Alter: Warum vergaß sie ständig, die Tür abzuschließen? Warum hatte sie die Tür nicht längst durch eine porta blindata ersetzen lassen, die automatisch verriegelte, wenn sie zufiel? »Costanza?«, rief sie. »Ci sei?« Sie horchte, aber niemand antwortete. Ohne nachzudenken, ging Anna Maria zu dem Tisch gegenüber der Tür, auf dem eine Handvoll Briefe lag, nicht mehr als vier oder fünf, daneben der Espresso von dieser Woche. Erst jetzt, als sie das Titelblatt der Zeitschrift sah, fiel ihr auf, dass im Flur Licht war; auch durch die halboffene Wohnzimmertür und die weit geöffnete Tür des größeren Schlafzimmers drang Licht in den Flur.
    Signora Altavilla war im Italien der Nachkriegszeit aufgewachsen, und wenn sie auch durch ihre Ehe reich und glücklich geworden war, hatte sie sich die einmal erlernte Sparsamkeit doch nie abgewöhnt. Anna Maria, Kind einer wohlhabenden Familie zur Zeit des Wirtschaftsbooms, hatte nie geizen müssen. So hatte die Jüngere es immer seltsam gefunden, dass die Ältere jedes Mal das Licht ausmachte, wenn sie ein Zimmer verließ, im Winter zwei Pullover trug oder sich ernsthaft darüber freute, wenn sie bei Billa ein Schnäppchen gemacht hatte.
    »Costanza?«, rief sie noch einmal, eher um sich von ihren Gedanken abzulenken als jetzt noch eine Antwort erwartend. [14]  Aus dem unbewussten Bedürfnis, die Hände frei zu haben, legte sie die Schlüssel auf den Briefen ab, dann sah sie schweigend nach dem Licht, das durch die offene Tür am Ende des Flurs fiel.
    Sie holte tief Luft, machte einen Schritt nach vorn und noch einen und noch einen. Dann hielt sie inne, sie konnte einfach nicht weiter. Sie sagte sich, wie töricht sie sei, nahm ihren Mut zusammen und riskierte einen Blick durch die halboffene Tür. »Costan-«, begann sie, schlug aber beide Hände vor den Mund, als sie auf dem Fußboden eine Hand liegen sah. Dann den Arm, die Schulter und schließlich den Kopf, zumindest den Hinterkopf. Und das kurze weiße Haar. Anna Maria hatte die alte Frau seit Jahren fragen wollen, ob ihre Weigerung, sich die Haare in dem für Frauen ihres Alters obligatorischen Rot färben zu lassen, ebenfalls mit ihrer Sparsamkeit zu tun habe oder ob sie damit bloß akzeptierte, dass weißes Haar ihr faltiges Gesicht weicher und würdevoller erscheinen ließ.
    Sie sah auf die reglose Frau hinunter, die Hand, den Arm, den Kopf. Und erkannte, dass sie ihr die Frage niemals mehr stellen konnte.

[15]  2
    G uido Brunetti, Commissario di Polizia der Stadt Venedig, saß mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten Vice-Questore Giuseppe Patta beim Abendessen und verwünschte sein Schicksal. Von ihm aus hätten Aliens ihn entführen oder bärtige Terroristen, mit blutrünstigen Blicken wild um sich schießend, das Restaurant stürmen können. In dem Chaos hätte Brunetti, der wie gewöhnlich keine Waffe trug, einem der Angreifer die seine entrissen und damit nicht nur den Vice-Questore, sondern auch Tenente Scarpa erschossen, der neben dem Vice-Questore saß und in diesem Augenblick sein bedächtiges - negatives - Urteil über den Grappa aussprach, der ihnen zum Ende der Mahlzeit serviert worden war.
    »Ihr im Norden«, sagte der Tenente mit einem herablassenden Nicken in
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