Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cleverly, Barbara - Die List des Tigers

Cleverly, Barbara - Die List des Tigers

Titel: Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
etwas zurufen, aber die Worte erreichten ihre Mutter nie. In absoluter Lautlosigkeit löste sich verstohlen eine goldschwarze Gestalt aus dem Gras hinter Putli und sprang sie an. Eine eiserne Pfote säbelte durch die Luft und durchtrennte den schmalen Hals mit einem einzigen Hieb. Der dunkle Kopf, immer noch in den Chaddar gehüllt, fiel zu Boden, und der Tiger, der den Körper mit den Zähnen gepackt hielt, wollte sich durch das hohe Gras in Richtung der Bäume auf dem Hügel entfernen. Mit einem verzweifelten Aufheulen setzte sich Putlis Mutter in Bewegung. Wut, Ekel und Hass gaben ihrem dünnen Arm Kraft, und sie schleuderte ihre Sichel in einem funkelnden Bogen auf die wilde Fratze. Dank der Gnade der Dschungelgeister traf die sich drehende Klinge den Tiger im Auge, und halb blind verwandelte sich sein durchdringendes Brüllen in einen beinahe menschlichen Schrei des Schmerzes und der Demütigung. Er ließ seine Beute los, schüttelte die Sichel von seinem riesigen Schädel ab, drehte sich um und war in Sekundenbruchteilen nurmehr ein Schatten im Gras.
    Der eingerollte Körper von Putli lag zu Füßen ihrer Mutter.
Kapitel 2
    SIMLA, Mai 1922
    Joe Sandilands ritt gemütlich die Mall entlang und lenkte seinen schwitzenden Mietgaul durch die immer dichter werdende Menge zurück zu den Stallungen der Junggesellenwohngemeinschaft. Wie immer genoss er die Geräusche der erwachenden Stadt. Simla, die Sommerhauptstadt von Britisch-Indien, erhob sich früh und machte sich in flottem Tempo an die Alltagsgeschäfte. Uniformierte schlenderten zwischen den Militäreinrichtungen entlang der Mall, und rotgekleidete Chaprassis eilten, mit Nachrichtenkästen auf den Hüften, von der Post zu den Regierungsgebäuden; ihre Energie war der Brennstoff für den Informationsfluss, der sich von dieser wenig bemerkenswerten Straße ausbreitete und über den ganzen Erdball pulsierte. Joe schüttelte den Kopf, halb bewundernd, halb ungläubig. Die exzentrische, kleine Stadt an den Hängen des Himalaya, zwischen den glühend heißen Ebenen Indiens und den eisigen Gipfeln Tibets, sah aus wie eine deplatzierte, typisch englische Kleinstadt. Und doch wurde zwischen März und November das mächtige britische Empire von hier aus regiert, und dieses Reich erstreckte sich über die Hälfte der Welt, dachte Joe und erinnerte sich an die rosafarbenen Landflächen, die er als Kind auf seinem Globus studiert hatte.
    Schon schoben die ersten Kindermädchen Kinderwagen die Straße hinunter und riefen einander Begrüßungen zu, ihre flötenden Stimmen als schrille Begleitung zum fernen Stampfen marschierender Füße. Joe fädelte sich auf dem Pferderücken durch die zielgerichtete Menge und spürte dabei einen Stich puritanischer Schuldgefühle, weil er sich dem Nichtstun hingab, während diese kleine Welt sich an die Arbeit machte.
    Allerdings nicht die ganze kleine Welt! Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine derzeitige Beschäftigungslosigkeit nichts war im Vergleich zu dem hier heimischen Faultier, das er in dem Haus vorfinden würde, zu dem er auf dem Weg war. Acht Uhr. Die vier Bewohner der Junggesellenwohngemeinschaft lagen höchstwahrscheinlich noch schlafend im Bett und erholten sich von den Ausschweifungen der Nacht oder standen bestenfalls gerade erst auf. Mit etwas Glück würde er sich zur Residenz zurückschleichen können, ohne bemerkt zu werden. Aber dann fiel ihm wieder das Telegramm in seiner Tasche ein. Sir George Jardine, sein Gastgeber und regierender Gouverneur von Bengalen, hatte ihm aufgetragen, dieses Telegramm Edgar Troop auszuhändigen. Edgar, der Anführer dieser louche coterie, die die einstige Prunkvilla auf dem Mount Pleasant bewohnte, hatte sich seine Position in der Gruppe dadurch verdient, dass er der Älteste, Unternehmungslustigste und Skrupelloseste von allen war. Unerklärlicherweise schien er das Vertrauen von Sir George zu genießen. Joes Vertrauen genoss er allerdings nicht, und obwohl sie unter gefährlichen Umständen Schulter an Schulter in der Wildnis gekämpft hatten, mit dem instinktiven Verständnis und der gegenseitigen Verlässlichkeit, die zwei Soldaten im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind immer aufweisen, hielt Joe Captain Troop für rätselhaft und seine Lebensweise für abstoßend. Als er sich fragte, warum er immer wieder mehr als die üblichen fünf Höflichkeitsminuten mit diesem Mann verbrachte, musste er jedoch zugeben, dass Edgars fröhlicher Zynismus und seine Lebenslust letztendlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher