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Clementine

Clementine

Titel: Clementine
Autoren: Sara Pennypacker
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aussah.
    Meine Mutter arbeitete an ihrem Zeichentisch. Plötzlich ging mir auf, dass ich auf Zeitschriftenbildern von Wohnzimmern noch nie einen Zeichentisch gesehen hatte.
    Ich knallte die Tür zu. »Margrets Mutter hat immer Kleider an.« Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich das sagen würde.
    »Margrets Mutter arbeitet in einer Bank«, sagte meine Mutter, ohne mit dem Zeichnen aufzuhören. »Das ist da vielleicht eine Regel.«
    »Trotzdem«, sagte ich.
    »Ich bin Künstlerin, Clementine. Ich will mich wohlfühlen. Ich beschmiere mich immer mit Farbe. Ich muss Latzhosen oder Jeans tragen. Das weißt du, oder?«

    »Ja«, sagte ich. »Trotzdem.«
    Meine Mutter legte endlich ihren Bleistift hin und schaute auf. »Clementine, wünschst du dir manchmal die Sorte Mutter, die in einer Bank arbeitet und Kleider trägt?«
    Ich nagelte meinen Mund zu, damit er nicht sagen konnte, ja, vielleicht, manchmal, und schaute ganz schnell aus dem Fenster, weil meine Mutter nicht sehen sollte, dass meine Augen das dachten.
    Dann stand meine Mutter auf und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Wir wohnen im Souterrain, also halb unterirdisch. Das bedeutet, dass die Fenster genau auf der Höhe des Bürgersteigs sind. Und da standen wir also beide und taten so, als ob uns die vielen vorübergehenden Füße ungeheuer interessierten. In Wirklichkeit stellte ich mir meine Mutter in einem Kleid vor. Ich glaube, dass sie das auch tat, denn plötzlich schielten wir uns aus den Augenwinkeln an und dann prusteten wir beide los und konnten gar nicht wieder aufhören zu lachen.
    Schließlich wischte meine Mutter sich die Augen und sagte: »Ach, lass mal. So komisch wäre das nun auch wieder nicht, oder?«
    Und ich sagte: »Doch, das wäre es.«
    Und dann wusste ich, dass dies genau der richtige Moment war, um ihr mein Geheimnis zu erzählen. »Wenn ich groß bin, werde ich vielleicht Künstlerin.«
    Und wisst ihr, was sie gesagt hat?
    »Ach, Clementine, das bist du doch schon. Vielleicht hast du später einen ganz anderen Beruf – wozu immer du dann Lust hast –, aber Künstlerin wirst du sowieso immer sein. Das bist du einfach.«

    Und plötzlich sah unser Wohnzimmer mit dem Zeichentisch richtig elegant aus. Aber jetzt juckte es mir in den Fingern und ich wollte zeichnen, und deshalb zog ich meine Jacke an und ging in den Park, um etwas Interessantes zum Zeichnen zu finden.
    Mein Dad sagt, dass ich hervorragend darin bin, interessante Sachen zu bemerken. Er sagt sogar, wenn es ein Sport wäre, interessante Sachen zu bemerken, dann würde ich den Hals voller Goldmedaillen haben. Er sagt, das sei ein sehr gutes Zeichen für meine Zukunft. Er sagt, ich könnte natürlich eine gute Detektivin werden, aber Sachen zu bemerken sei in jedem Beruf nützlich.
    Meine Mutter sagt, das bedeutet, dass ich auch eine gute Künstlerin sein könnte.
    Oder Schriftstellerin. Voriges Jahr war eine Schriftstellerin bei uns in der Schule und sagte: »Passt auf!« Aber sie meinte nicht, auf die Lehrerin, sie meinte, wir sollten aufpassen, was um uns herum geschieht, damit wir darüber schreiben können. Dann sah sie mir ins Gesicht und sagte, wir sollten uns alles Gute merken und aufschreiben, damit wir es nicht vergessen.

    Und obwohl ich ja nicht Schriftstellerin werden will – die müssen zu viel still sitzen –, bemerke ich interessante Dinge und schreibe sie auf. Ich zeichne sie auch.
    Im Park sah ich sofort etwas Großartiges: eine Frau, die aus einer Thermoskanne Linsen aß – mit einer Zahnbürste! Obwohl sie eine Gabel hatte, die sie für ihren Salat benutzte.
    Also fragte ich die Frau, ob ich ein Bild von den Linsen auf ihrer Zahnbürste zeichnen dürfte, und sie sagte, »sicher«, und das machte ich dann auch.
    Als ich nach Hause kam, schrieb ich alles auf und fragte meine Mom, ob wir zum Abendessen Linsen bekommen könnten.
    »Du hasst Linsen, Clementine«, erinnerte meine Mutter mich.
    »Ich glaube, ich habe sie auf die falsche Weise gegessen«, sagte ich.
    Also gab es Linsen und ich aß sie auf die neue Weise, und stell dir vor – es hat geklappt. Die Linsen blieben auf den Borsten hängen und kullerten nicht runter wie von einer Gabel. Also kriegte ich jede Menge Linsen in den Mund.
    Was gar nicht so lustig war, wo ich Linsen doch hasse.

      

4. KAPITEL
    »Ich gehe heute lieber nicht in die Schule«, sagte ich meiner Mom am Mittwoch, gleich nach dem Aufwachen. »Ich habe angeknackste Zehen.« Ich stellte den Fuß neben ihr Gesicht auf das
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