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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Autoren: José Saramago
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behinderte, legte etwas von Unbestimmtheit und Traum über die Stadt. Isaura genoss das alles. Sie hatte noch länger Freude daran. Auf dem Fluss glitt eine Schaluppe vorbei, so sanft, als schwebte sie auf einer Wolke. Das rote Segel färbte sich durch den Nebelgazeschleier rosa. Plötzlich tauchte das Boot in eine dickere Wolke ein, die das Wasser leckte, und als es eigentlich wieder in Isauras Blickfeld gelangen sollte, verschwand es hinter einer Hausfront.
    Isaura seufzte. Es war der zweite Seufzer an diesem Morgen. Sie schüttelte den Kopf wie ein Schwimmer, der nach längerem Tauchen an die Oberfläche kommt, und die Nähmaschine ratterte los. Der Stoff glitt unter dem Nähfuß dahin, die Finger führten ihn so automatisch, als wären sie Teil des Mechanismus. Die vom Geratter leicht betäubte Isaura hatte das Gefühl, dass jemand zu ihr sprach. Sie hielt das Rad abrupt an, Stille kehrte ein. Sie drehte sich um.
    »Was ist?«
    Die Mutter sagte noch einmal:
    »Findest du nicht, dass es etwas zu früh ist?«
    »Zu früh? Wieso?«
    »Das weißt du genau … Der Nachbar …«
    »Aber was soll ich denn machen, Mutter? Was kann ich dafür, dass der Nachbar von unten nachts arbeitet und tagsüber schläft?«
    »Du könntest wenigstens noch ein bisschen warten. Ich will keinen Ärger mit den Nachbarn.«
    Isaura zuckte die Achseln. Sie trat wieder aufs Pedal und sagte mit erhobener Stimme über den Maschinenlärm hinweg:
    »Und ich soll dann zum Geschäft gehen und sagen, dass sie warten müssen, ja?«
    Cândida schüttelte langsam den Kopf. Sie war meist ratlos und unschlüssig, litt unter der Dominanz ihrer drei Jahre jüngeren Schwester und unter dem schlechten Gewissen, ihren Töchtern auf der Tasche zu liegen. Ihr größter Wunsch war, niemanden zu stören und gar nicht wahrgenommen zu werden, konturenlos wie ein Schatten in der Dunkelheit. Sie wollte antworten, doch als sie Amélias Schritte hörte, verstummte sie und ging in die Küche zurück.
    Unterdessen konzentrierte sich Isaura auf ihre Arbeit und verbreitete im ganzen Haus Lärm. Der Fußboden vibrierte. Ihre blassen Wangen wurden nach und nach rosiger, auf der Stirn bildete sich ein Schweißtropfen. Wieder spürte sie, dass jemand den Raum betrat, und verlangsamte ihr Tempo.
    »Du musst nicht so schnell arbeiten. Davon wirst du nur müde.«
    Tante Amélia sagte nie ein Wort zu viel. Nur das Notwendige und Unerlässliche. Aber das sagte sie so, dass jeder die Knappheit zu schätzen wusste. Es war, als entstünden die Wörter in ihrem Mund im selben Augenblick, in dem sie ausgesprochen wurden – noch voller Bedeutung und Sinn, ganz unverbraucht. Deshalb wirkten sie gebieterisch und überzeugend. Isaura drosselte ihr Tempo.
    Kurz darauf klingelte es an der Tür. Cândida ging öffnen, kam nach ein paar Augenblicken ängstlich und betreten zurück und murmelte:
    »Hab ich’s nicht gesagt? …«
    Amélia blickte auf.
    »Was ist?«
    »Die Nachbarin von unten kommt sich beschweren. Der Lärm … Geh du hin …«
    Ihre Schwester ließ das Geschirr stehen, das sie gerade abspülte, wischte sich die Hände an einem Tuch trocken und ging zur Tür. Auf dem Treppenabsatz stand die Nachbarin.
    »Guten Tag, Dona Justina. Was kann ich für Sie tun?«
    Amélia war jederzeit und in jeder Situation die Höflichkeit in Person. Doch wenn sie besonders höflich wurde, wirkte sie eiskalt. Ihre winzigen Pupillen gruben sich in das Gesicht ihres Gegenübers und erzeugten ein Gefühl von Unbehagen und Verlegenheit, dem man sich kaum entziehen konnte.
    Die Nachbarin hatte sich mit Amélias Schwester freundlich unterhalten und hatte ihr Anliegen schon fast vorgebracht. Nun hatte sie ein weniger schüchternes Gesicht und einen direkteren Blick vor sich. Sie stammelte:
    »Guten Tag, Dona Amélia. Mein Mann … Er arbeitet die ganze Nacht bei der Zeitung, wie Sie wissen, und kann sich erst morgens zum Schlafen hinlegen … Er wird immer böse, wenn man ihn weckt, und ich muss mir das dann anhören. Wenn Sie mit der Nähmaschine etwas weniger Lärm machen würden, wäre ich dankbar …«
    »Ich weiß ja. Aber meine Nichte muss arbeiten.«
    »Das verstehe ich. Mir selbst macht das nichts aus, aber Sie wissen doch, wie die Männer sind …«
    »Ja, ja. Und ich weiß auch, dass Ihr Mann sich nicht viel um den Schlaf der Nachbarn schert, wenn er mitten in der Nacht nach Hause kommt.«
    »Was soll ich tun? Ich habe es aufgegeben, ihm beizubringen, dass er die Treppe ordentlich
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