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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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Einzigen, die mit ihr nach dem Unglück gesprochen hatte, erzählte sie, sie erinnere sich nicht einmal mehr, wer es ihr gesagt habe. »Ich weiß nur, dass um sechs Uhr früh alle Welt es wusste«, sagte sie. Es erschien ihr jedoch undenkbar, dass Santiago Nasar getötet werden könnte, vielmehr kam ihr der Gedanke, dass man ihn zwingen würde, Ángela Vicario zu heiraten, um deren Ehre wiederherzustellen. Ein Gefühl tiefer Demütigung befiel sie. Während das halbe Dorf auf den Bischof wartete, weinte sie vor Wut in ihrem Schlafzimmer und brachte Ordnung in die Schatulle mit den Briefen, die Santiago Nasar ihr aus dem Internat geschrieben hatte.
    Immer wenn Santiago Nasar an Flora Miguels Haus vorüberging, auch wenn niemand da war, kratzte er mit seinen Schlüsseln über das Drahtgitter der Fenster. An jenem Montag wartete sie auf ihn, die Briefschatulle auf dem Schoß. Santiago Nasar konnte sie von der Straße aus nicht sehen, sie hingegen sah ihn durch den Maschendraht näher kommen, noch bevor er mit den Schlüsseln darüber kratzte.
    »Komm herein«, sagte sie.
    Niemand, nicht einmal ein Arzt, hatte dieses Haus je um sechs Uhr fünfundvierzig betreten. Santiago Nasar hatte gerade Cristo Bedoya in Yamil Shaiums Laden zurückgelassen, und da auf der Plaza so viele Leute auf ihn warteten, ist es unbegreiflich, dass niemand ihn das Haus seiner Verlobten betreten sah. Der Untersuchungsrichter suchte wenigstens eine Person, die ihn gesehen hatte, und tat dies mit ebenso viel Beharrlichkeit wie ich, doch es war unmöglich,jemanden zu finden. Auf Folio 382 der Beweisaufnahme schrieb er mit roter Tinte eine weitere Sentenz an den Rand: Das Verhängnis macht uns unsichtbar. Tatsache ist, dass Santiago Nasar vor aller Augen und ohne das Geringste zu unternehmen, um nicht gesehen zu werden, das Haus durch den Haupteingang betrat. Flora Miguel erwartete ihn im Wohnzimmer, grün vor Zorn, in einem ihrer unseligen Halskrausenkleider, die sie bei denkwürdigen Gelegenheiten zu tragen pflegte, und überreichte ihm die Schatulle.
    »Hier«, sagte sie. »Und hoffentlich töten sie dich!«
    Santiago Nasar war so verblüfft, dass ihm die Schatulle aus den Händen fiel, und seine Briefe ohne Liebe ergossen sich auf den Fußboden. Er versuchte Flora Miguel vor dem Schlafzimmer einzuholen, doch sie hatte bereits die Tür verschlossen und den Riegel vorgeschoben. Er klopfte mehrmals und rief sie mit einer für die Tageszeit allzu drängenden Stimme, so dass aufgestört die gesamte Familie herbeieilte. Mit Blutsverwandten und Verschwägerten, Alten und Jungen, waren es über vierzehn. Der Letzte, der aus seinem Zimmer kam, war Nahir Miguel, der Vater, mit seinem roten Bart und der Beduinendschellaba, die er aus seiner Heimat mitgebracht hatte und immer im Hause trug. Ich hatte ihn häufig gesehen, er war riesengroß und bedächtig, doch am meisten beeindruckte mich der Glanz seiner Autorität.
    »Flora«, rief er in seiner Muttersprache, »öffne die Tür.«
    Er betrat das Schlafzimmer seiner Tochter, während die Familie gebannt Santiago Nasar zuschaute. Im Wohnzimmer kniend sammelte er die Briefe vomFußboden auf und legte sie in die Schatulle. »Es sah aus wie eine Bußübung«, sagte man zu mir. Nahir Miguel kam nach einigen Minuten aus dem Schlafzimmer, machte ein Zeichen mit der Hand, und die gesamte Familie verschwand.
    Dann redete er auf Arabisch mit Santiago Nasar. »Mir war gleich klar, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich sprach«, sagte er zu mir. Daraufhin habe er ihn direkt gefragt, ob er wisse, dass die Brüder Vicario ihn suchten, um ihn zu töten. »Er wurde blass und verlor auf eine Weise die Selbstbeherrschung, dass man unmöglich annehmen konnte, er verstelle sich«, sagte Nahir Miguel zu mir. Auch er meinte, dass seine Haltung weniger Angst als Bestürzung verraten hatte.
    »Du wirst wissen, ob sie Recht haben oder nicht«, sagte er zu ihm. »Jedenfalls bleiben dir jetzt nur zwei Möglichkeiten: Entweder du versteckst dich hier, wo du zu Hause bist, oder du gehst mit meiner Büchse auf die Straße.«
    »Ich verstehe rein gar nichts«, sagte Santiago Nasar.
    Mehr brachte er nicht heraus, und er sagte es auf Spanisch. »Er sah aus wie ein nasses Vögelchen«, sagte Nahir Miguel zu mir. Er musste ihm die Schatulle aus der Hand nehmen, weil Santiago Nasar nicht wusste, wohin damit, als er die Tür öffnen wollte.
    »Das sind zwei gegen einen«, sagte Nahir Miguel zu ihm.
    Santiago Nasar ging hinaus. Die Leute hatten
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