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Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Titel: Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Autoren: Anne Rice
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Glaubst du, ich benutze dieses Wort leichtfertig? Vergiss für einen Moment den Familiennamen und alles, was wir darüber wissen. Wir haben hier etwas, das sogar unsere Mayfairs verblüffen würde. Allerdings - wenn ich etwas in der Sache zu sagen habe, werden die sie nie zu Gesicht bekommen. David, dieses Mädchen kann Geister herbeirufen. Schlag die Bibel beim Buch Samuel auf. Sie ist die Hexe von Endor! Und du benimmst dich ebenso grantig wie der Geist Samuels, als die Hexe ihn aus seinem Schlaf aufrief. Nun steig schon aus dem Bett und überquere den Atlantik. Ich brauche dich jetzt hier!« Die Hexe von Endor. Ich musste nicht in der Bibel nachschlagen. Jedes Mitglied der Talamasca kannte die Geschichte nur zu gut. König Saul geht aus Angst vor dem Heer der Philister vor der ge fürchteten Schlacht zu einer Frau, »die Gewalt über einen Totengeist hat«, und bittet sie, den Propheten Samuel von den Toten zu erwecken. »Warum hast du mich aufgestört und heraufsteigen lassen?«, verlangt der Geist des Propheten zu wissen, und ohne zu zögern, sagt er vorher, dass König Saul und dessen beiden Söhne am nächsten Tag im Tode mit ihm vereint sein werden. Die Hexe von Endor. Das war Merrick fortan stets für mich, gleichgültig, wie nahe ich ihr später auch stand. Sie war Merrick Mayfair, die Hexe von Endor. Zu Zeiten habe ich sie sogar in halb offiziellen Mitteilungen und kurzen Anmerkungen so ange redet.
    Zuerst war sie für mich ein anrührendes Phänomen. Ich war Aarons Ruf gefolgt, hatte gepackt, war nach Louisiana geflogen und hatte dort zum ersten Mal Oak Haven betreten, einen glanzvollen, ehemaligen Plantagensitz, an der alten River Road am Rande New Orleans gelegen, der nun unser Refugium geworden war. Alles verlief wie ein Traum. Im Flugzeug las ich im Alten Testament: König Sauls Sohn wurde in der Schlacht erschlagen. Saul stürzte sich in sein Schwert. War ich vielleicht doch abergläubisch? Ich hatte mein Leben der Talamasca gewidmet, aber ich hatte schon vorher, ehe ich meine Ausbildung dort begann, Geister gesehen und ihnen befehlen können. Das heißt, es waren keine Geister. Es waren namenlose, nie körperlich sichtbare Wesenheiten, und für mich waren sie mit den Namen und Ritualen der brasilianischen CandombleZauberei verbunden, in die ich mich in meiner Jugend so verwegen gestürzt hatte. Aber als dann die Gelehrsamkeit und die eifrige Sorge um andere mich in Anspruch nahmen, hatte ich diese Fähigkeit in mir erkalten lassen. Ich hatte die Geheimnisse Brasiliens aufgegeben für die nicht minder wundersame Welt der Archive und Altertümer, Bibliotheken, Ordensorganisation und der Lehrtätigkeit, durch die ich andere zur Ehrerbietung für unsere Methoden und behutsamen Vorgehensweisen verlockte. Die Talamasca war so umfassend, so alt, und sie schloss einen Jünger stets liebevoll in ihre Arme. Und obwohl Aaron mit seinem übersinnlichen Einfühlungsvermögen in viele Köpfe schauen konnte, hatte er - wenigstens damals - keine Ahnung von meinen früheren Fähigkeiten. Ich würde erkennen können, ob das Mädchen war, was es vorgab zu sein. Unser Wagen war im strömenden Regen durch die lange Allee aus riesigen Eichbäumen gefahren, die von der Zufahrtsstraße bis zum Mutterhaus mit den riesigen Flügeltüren führte. Selbst in der Dunkelheit wirkte diese Welt, wo die knorrigen Äste der Eichen das hohe Gras berührten, noch erstaunlich grün. Die lang herabhängenden Büschel des Spanischen Mooses strichen über das Wagendach.
    Der Strom sei an jenem Abend durch das Unwetter ausgefallen, sagte man mir. »Einfach zauberhaft«, hatte Aaron gemeint, während er mich begrüßte. Damals hatte er schon weißes Haar ge habt und war stets gutmütig, ganz der reizende alte Herr. »Wie in der guten alten Zeit sieht’s hier aus, findest du nicht?« Der große, quadratische Raum wurde nur von Öllampen und Kerzen erhellt. Ich hatte ihr Flackern schon bei unserer Ankunft durch das fächerförmige Oberlicht des Portals gesehen. Auf den Galerien, die sich im ersten und zweiten Stock um das ganze Haus zogen, schwankten Laternen im Wind. Ungeachtet des Regens hatte ich mir, ehe wir eintraten, die Zeit ge nommen, einen umfassenden Blick auf das beeindruckende Land haus mit den schlichten Säulen zu werfen. Einst hatte ringsum meilenweit nur Zuckerrohr gestanden. Und jenseits der Blumenrabatten, deren Farben verschwommen durch den Regenvorhang schimmerten, sah man noch die verwitterten Außengebäude, die einst
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