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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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sich nach seinen Kleidern und zog den schmal gewordenen Geldbeutel aus der Rocktasche. Andrej war sich der aufmerksamen Blicke bewusst, mit denen sie jeder seiner Bewegungen folgte. Vermutlich dachte sie zumindest für einen kurzen Augenblick darüber nach, wie sie auch in den Besitz der übrigen Münzen gelangen konnte, die sich noch darin befanden. Er sollte sich dieses Gedankens schämen, aber das wollte ihm genauso wenig gelingen, wie es ihr übel zu nehmen. Das Leben und die Menschen waren eben, wie sie waren.
    Er bezahlte das Mädchen und sah ihr mit unverhohlenem Wohlgefallen dabei zu, wie sie sich anzog – wofür sie länger brauchte, als notwendig gewesen wäre. Doch statt dann zu gehen, hob sie das Glas auf, das nicht zerbrochen war, trat an den Tisch und füllte es mit dem Rest aus dem Weinkrug. Sie trank nicht gleich, sondern hielt es ihm fragend hin – Andrej schüttelte wortlos den Kopf- und nippte dann bloß an der blutfarbenen Flüssigkeit. Auch diesmal blieb eine einzelne schimmernde Träne in ihrem Mundwinkel zurück. Andrej war sich sicher, dass das ebenso wenig ein Zufall war wie die Bewegung, mit der sie sie erst nach etlichen Sekunden mit der Zungenspitze aufnahm. Das Mädchen verstand sein Geschäft. Was es nicht verstand und auch nicht verstehen konnte, war, dass es mit seinem Leben spielte. Wäre das Ungeheuer in ihm nur ein wenig stärker – »Warum seid Ihr so traurig, Andrej?«, fragte sie.
    »Bin ich das?« Andrej begann sich anzukleiden, wobei er – mit einem Mal schamhaft – zuerst in seine Hosen schlüpfte, bevor er die Decke fallen ließ – als ob es irgendetwas an ihm gegeben hätte, was sie nicht gesehen oder mit den Lippen berührt hatte!
    »Ihr gebt es nicht zu, aber ich weiß, wenn jemand einen Schmerz zu verbergen versucht«, antwortete das Mädchen.
    Andrej zog sich das Hemd über den Kopf, und etwas gleichermaßen Sonderbares wie Beunruhigendes geschah: Sein Blick streifte ihr Gesicht, und aus den Augenwinkeln wirkte sie beinahe androgyn. Wäre ihr Haar weiß, statt schwarz und glatt und nicht lockig gewesen …
    Andrej schüttelte den Gedanken fast erschrocken ab und beeilte sich, in die zerschlissenen Stiefel zu schlüpfen. Als Letztes legte er den Waffengurt mit dem ungewohnt schmalen und lächerlich leichten Degen um, eine alberne Waffe, die diese Bezeichnung seiner Meinung nach kaum verdiente und niemals ein Ersatz für Gunjir sein würde. Aber Klingen wie diese (Kinderspielzeuge, wie Abu Dun sie nicht ganz unzutreffend genannt hatte) waren in dieser Stadt nun einmal in Mode, und Abu Dun und er waren übereingekommen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten.
    Was ihm in Begleitung eines Mannes wie Abu Dun allerdings schwerfallen würde.
    »Hat es mit Eurem Sohn zu tun?«, fragte Corinna. »Marius?«
    Zuerst wollte er sie anfahren und ihr endgültig klarmachen, dass sie das nichts anging. Stattdessen schlüpfte er nur mit einiger Anstrengung in seinen zweiten Stiefel, sah von der Bettkante zu ihr hoch und nickte stumm.
    »Ist er … tot?«, fragte Corinna.
    Vielleicht war es das beinahe unmerkliche Stocken, das ihn antworten ließ, statt einfach aufzustehen und zu gehen, wozu er eben noch fest entschlossen gewesen war. »Nein«, sagte er.
    »Was ist ihm dann zugestoßen?«
    Das Schlimmste, was einem Menschen zustoßen kann. Ich. »Was bringt dich auf die Idee, dass ihm etwas zugestoßen ist?«, fragte er.
    »Ihr habt im Schlaf gesprochen, schon vergessen?«
    »Und du hast behauptet, du hättest nichts verstanden.«
    »Vielleicht habe ich ja gelogen«, antwortete das Mädchen, lachte kopfschüttelnd und kam dann zu ihm, um sich auf seine Oberschenkel zu setzen. »Ich habe Euch doch gesagt, dass ich es spüre, wenn jemand einen Schmerz in sich trägt. Ist ihm ein Unglück widerfahren?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej. »Ich habe ihn vor einem Jahr das letzte Mal gesehen. Abu Dun und ich sind hergekommen, um nach ihm zu suchen, doch bisher erfolglos.«
    Corinna legte fragend den Kopf auf die Seite und begann mit den Beinen zu baumeln, als wollte sie plötzlich das unbedarfte Kind mimen. »Erzählt mir von ihm!«, verlangte sie.
    »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Andrej. »Ich habe ihn kaum gekannt.«
    »Euren eigenen Sohn?«
    »Ich habe ihn lange nicht gesehen«, sagte Andrej. »Fast sein ganzes Leben.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Wie auch? »Es ist … kompliziert«, sagte er. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da war er
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