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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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herumfahren, schreien, davonlaufen, doch er war wie gelähmt, sah, wie der Knabe mit dem Gesicht eines mörderischen Engels mit torkelnden Schritten näher kam, eingehüllt in den schrecklichen Odem aus Tod und Zerfall, der unmöglich schon nach so kurzer Zeit entstanden sein konnte und ihm doch schier den Atem nahm. Seine Hand, deren Fingernägel sich lösten und an langen, schleimigen Fäden zu Boden tropften, hielt noch immer das schlichte Holzkreuz umklammert. Grauer Rauch kräuselte sich zwischen seinen Fingern empor, der nach verkohltem Holz und schmelzendem Fleisch und den Qualen tausend verdammter Seelen roch, und nun begann auch das Gesicht des Knaben zu zerfließen, wie eine Maske aus Wachs, die dem Feuer der Hölle zu nahe gekommen war.
    Warum hast du das getan, Vater? Warum hast du mich …
    Andrej fuhr mit einem Schrei in die Höhe, registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und riss ganz instinktiv den Arm hoch, um sich zu schützen, vielleicht auch um zuzuschlagen. Im letzten Moment noch begriff er seinen Irrtum und hielt im Hieb inne. Trotzdem erklang ein erschrockener Laut, und er spürte, wie sich jemand hastig zurückzog, wenn auch nur ein kleines Stück.
    Sein Herz raste. Er war zurück in der Wirklichkeit, aber der Traum ließ ihn nicht los, sondern hielt seine Gedanken weiter gefangen, wie ein klebriges Spinnennetz, in das er sich nur immer unrettbarer verstrickte, je verzweifelter er es zu zerreißen versuchte. Etwas tat sich in ihm auf, ein schwarzer Abgrund, in dem der Albtraum lauerte, um ihn endgültig zu sich hinunterzuziehen, zu verschlingen und vielleicht nie wieder freizugeben. Da waren unsichtbare Augen, die ihn voller Hass anstarrten, und – Andrej ballte die Hände so heftig zu Fäusten, dass seine Gelenke knackten und es wehtat. Er presste die Augenlider fest zusammen und konzentrierte sich auf ein paar einfache mentale Übungen, um seine Gedanken zu beruhigen und die letzten Spinnwebfäden zu zerreißen. Es half, wenn auch nicht vollständig. Nicht einmal annähernd so gut, wie er gehofft hatte. Aber die Augen erloschen, und der Abgrund schloss sich. Langsam.
    »Ist … alles in Ordnung, gnädiger Herr?«
    Die Stimme schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen. Er hörte die Worte, aber sie ergaben keinen Sinn. Zitternd setzte er sich auf, zog die Knie an den Leib und fühlte raues Holz im Rücken. Alles drehte sich um ihn, selbst die Dunkelheit, als er die Augen wieder schloss. Er wusste nicht, wo er war, für einen schrecklichen Moment wusste er nicht einmal mehr, wer er war.
    »Gnädiger Herr?«
    Diesmal erkannte er, woher die Stimme kam, und konnte deutlich die Angst darin hören. Sein Gefühl sagte ihm, dass er sich an das Gesicht, das zu dieser Stimme gehörte, erinnern sollte, aber es wollte ihm nicht gelingen, so angestrengt er es auch versuchte.
    Endlich öffnete er die Augen, doch er fand sich in nahezu vollkommener Dunkelheit wieder. Erdrückende Enge umgab ihn und ein Hauch von staubig-grauem Licht, das durch ein winziges trapezförmiges Fenster über seinem Kopf fiel.
    »Gnädiger Herr?«, fragte die Stimme zum dritten Mal, und jetzt klang sie mehr besorgt als ängstlich. Etwas war hier nicht so, wie es sein sollte, aber er konnte nicht sagen, was.
    Mit schierer Gewalt zwang er sich, sich zu erinnern, wo er war. Die raue Wand in seinem nackten Rücken gehörte zu der schäbigen Dachkammer, die Abu Dun und er seit einer Woche bewohnten, und es war Nacht. Außerdem war er nicht allein. Doch damit hörte sein Wissen über das Hier und Jetzt auch schon auf. Dieses Mal hatte der Traum ihm wirklich zugesetzt.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte er mit einiger Verspätung und einer Stimme, die so brüchig und schwach wie die eines uralten Mannes klang und ihn selbst erschreckte. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es tut mir leid.«
    »Das habt Ihr nicht, gnädiger Herr.« Was wohl kaum der Wahrheit entsprach und nicht einmal besonders überzeugend klang. Mühsam drehte er den Kopf, blinzelte und erkannte jetzt immerhin einen Schatten, der auf dem Rand des schmalen Bettes saß und das andere Ende der zerschlissenen Decke an sich presste, die auch ihn bis zur Hüfte bedeckte. Darunter trug er nichts, und trotz des Dämmerlichts erkannte er, dass dasselbe auch für die schmale Gestalt galt. Vielleicht erinnerte er sich auch daran. Wenn auch nicht an mehr.
    Immerhin war klar, dass nicht Abu Dun auf seiner Bettkante saß, um ihn mit einer seiner sarkastischen
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