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Charlie + Leo

Charlie + Leo

Titel: Charlie + Leo
Autoren: Jochen Till
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glatt eine Drei gegeben! Nur weil sie keine Comics mag! Das sei keine Kunst, hat sie gesagt! Das muss man sich mal vorstellen! Ich kann besser zeichnen, als die komplette Klasse zusammen, und dann kriege ich eine Drei? Kann ja wohl nicht sein, oder?
    Wisst ihr, wie man eine Eins bei der Hensel-Tegtmeier kriegt? Indem man den Mülleimer nimmt, ihn auf ihrem Pult ausleert und ein bisschen rote Farbe drübersprüht. Echt jetzt, ohne Scheiß. Das hat letztes Jahr einer aus der Oberstufe gemacht und das Ganze dann »Das Blut der Wegwerfgesellschaft« genannt, und die Hensel-Tegtmeier hat sich vor Entzücken kaum noch eingekriegt und ihm allen Ernstes eine Eins dafür gegeben. Hallo? Wenn er das zu Hause gemacht hätte, hätte ihm seine Mutter wahrscheinlich links und rechts eine geknallt, und zwar völlig zu Recht.
    Ja, ich weiß, bringt ja doch nichts, sich darüber aufzuregen. Vor allem nicht heute, am ersten Montagmorgen nach den Sommerferien. Na ja, wenigstens sind die Vollidioten damit beschäftigt, sich gegenseitig von ihren Ferienerlebnissen vorzuprahlen, und lassen mich in Ruhe. Das wird sich allerdings spätestens in der ersten großen Pause ändern, wen n …
    Oh, da kommt der Schubert, unser Klassenlehrer. Jetzt kriegen wir erst mal den neuen Stundenplan. Vielleicht habe ich ja Glück und die Hensel-Tegtmeier wurde in den Ferien von einem Mülleimer erschlagen.

2
    » … Mittwoch: erste und zweite Stunde: Kunst bei Frau Hensel-Tegtmeier.«
    Schade. Kein Mülleimer. Ein Charlie Brown hat eben niemals Glück.
    »Dritte und vierte Stunde: Biologie, Her r …«
    Ein leises Klopfen unterbricht Schubert.
    »Herein, wenn’s kein Schneider ist!«, sagt er und wendet sich wieder an uns. »Weiß irgendjemand von euch zufällig, was dieser Spruch bedeutet?«
    Kollektives Schulterzucken. Es klopft noch mal an der Tür, diesmal deutlich lauter.
    »Die Tür ist offen!«, ruft Schubert lauter. »Also ursprünglich hieß es: Herein, wenn’s kein Schnitter ist. Und mit Schnitter war der Sensenmann gemeint, sprich der Tod. Dieser Spruch bedeutet somit eigentlich, dass der Tod nicht willkommen ist und draußen bleiben soll, wenn es an der Tür klopft.«
    »Zu spät«, sagt Lazlo, unser Klassenclown, und zeigt mit dem Finger auf die Tür. »Jetzt ist er schon drin.«
    Unsere Blicke folgen seinem Finger. Etwas komplett in Schwarz Gehülltes schlurft langsam auf Schubert zu. Die ganze Klasse scheint den Atem anzuhalten. So still ist es hier sonst nicht mal, wenn wir eine Mathearbeit schreiben.
    Natürlich weiß ich, dass das nicht wirklich der Tod ist, aber wenn ich ihn zeichnen müsste, würde er genau so aussehen. Ein ziemlich moderner Tod, beim näheren Hinsehen. In schwarzen Chucks und mit einem pechschwarzen Pulli, dessen Kapuze ganz tief ins Gesicht gezogen ist.

    Die Gestalt bleibt neben Schubert stehen und streckt ihm ihre im Kontrast zu ihrem restlichen düsteren Erscheinungsbild beinahe schon blendend weiße Hand entgegen, die einen grünen Zettel festhält. Schubert scheint von dieser Erscheinung ebenso gelähmt wie wir alle und starrt sie nur fassungslos an.
    »Was ist jetzt?«, brummelt es plötzlich aus den Tiefen der Kapuze hervor. »Nehmen Sie endlich diesen verdammten Zettel oder warten Sie darauf, dass ich hier festwachse?«
    Okay, der Tod kann also sprechen.
    Schubert nimmt den Zettel entgegen, faltet ihn auf und liest ihn.
    »Oh!«, sagt er schließlich. »Ach s o … Du bist das. Das hab ich ja völlig vergessen.«
    Er wendet sich an uns.
    »Leute, das is t … Würdest du bitte die Kapuze abziehen, damit deine neuen Mitschüler dich auch sehen können?«
    »Oh, Mann, sonst noch was?«, stöhnt der Tod genervt.
    Dann löst er langsam und widerwillig die Bändel an seiner Kapuze und streift sie wie in Zeitlupe nach hinten. Ein Raunen geht durch die Klasse. Und ich falle fast vom Stuhl. Ich kann mich gerade noch so mit einer Hand an der Tischkante abfangen. Der Tod ist nämlich nicht nur weiblich, sondern auch das Wunderschönste, was ich jemals gesehen habe. Ungelogen und kein bisschen übertrieben. Ich meine, es gibt sehr viele schöne Mädchen, ohne Frage. Aber die sind alle irgendwie gleich schön. Sie sind hübsch und man sieht sie sich gern an, weil sie nicht hässlich sind, aber sie unterscheiden sich nicht großartig voneinander, sie sind nur Teil einer schönen Masse. Nicht so der Tod. Dieses Mädchen ist einzigartig schön. Ihr könntet es in einem Fußballstadion voller schöner Mädchen verstecken
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