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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht
Autoren: Ally Condie
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sagt Lin mit gesenktem Blick.
    »Ich auch nicht«, erwidere ich. »Jemand hat es mir geschenkt.«
    Xander hat mir das Bild gegeben, an jenem Tag, als wir in unserer Siedlung voneinander Abschied nahmen. Es handelt sich um Nr.  19 der Hundert Gemälde –
Die Colorado-Schlucht
von Thomas Moran –, zu dem ich in der Schule einmal eine Interpretation vorgetragen habe. Damals habe ich gesagt, es sei eines meiner Lieblingsbilder, und Xander muss sich nach all den Jahren noch daran erinnert haben. Das Bild ängstigte und faszinierte mich zugleich – der Himmel war so spektakulär, die Landschaft so schön und gefährlich, so voller Höhen und Tiefen. Ich fürchtete mich vor der Weite eines Ortes wie diesem. Zugleich bedauerte ich, dass ich dies niemals sehen würde: grüne Bäume, die sich an rötliche Felsen klammern, blaugraue Wolken, die über den Himmel wirbeln, die Landschaft badend in goldenem Licht und Dunkelheit.
    Ich frage mich, ob etwas von dieser Sehnsucht in meiner Stimme mitschwang, als ich von dem Bild erzählte, ob Xander es bemerkte und sich daran erinnerte. Xander spielt seine Trümpfe noch immer sehr subtil aus, und dieses Gemälde ist einer davon. Denn wenn ich jetzt das Bild oder eines der Neorosen-Blütenblätter betrachte, denke ich daran, wie vertraut mir seine Nähe war und wie viel er wusste, und eine schmerzliche Sehnsucht erfüllt mich nach dem, was ich loslassen musste.
    Ich habe recht gehabt. Es ist tatsächlich das letzte Mal gewesen, dass wir uns das Gemälde ansehen konnten. Als ich es falten will, zerfällt das Papier. Wir seufzen auf, alle zugleich, und unser vereinter Atem wirbelt die Fragmente durcheinander.
    »Wir könnten uns das Bild auf dem Terminal ansehen«, schlage ich vor. Das einzige Terminal im Lager hockt summend drüben in der Haupthalle, groß und lauschend.
    »Nein«, erwidert Indie. »Es ist schon zu spät.«
    Es stimmt. Nach dem Abendessen müssen wir in unserer Unterkunft bleiben. »Dann eben morgen beim Frühstück«, sage ich.
    Indie winkt resigniert ab und dreht ihr Gesicht weg. Sie hat recht. Ich weiß nicht genau, warum das nicht dasselbe ist, aber so ist es nun mal. Zuerst habe ich gedacht, der Besitz des Bildes mache es zu etwas Besonderem für mich, dabei war das gar nicht der springende Punkt. Entscheidend war, dass wir es uns ansehen konnten, ohne beobachtet zu werden und ohne gesagt zu bekommen, wie wir es betrachten sollten. Dadurch war es so wertvoll für uns.
    Warum habe ich nicht schon früher, bevor ich hierhergekommen bin, Gemälde und Gedichte bei mir getragen? Dieses viele Papier in den Terminals, dieser große Luxus. So viele sorgfältig ausgewählte Beispiele der Schönheit, aber wir haben sie uns nicht gründlich genug angesehen. Wie konnte ich nicht erkennen, dass das Grün in der Nähe des Canyons so frisch war, dass man die Glätte der Blätter und ihre leichte Klebrigkeit – wie Schmetterlingsflügel, die sich zum ersten Mal entfalten – förmlich spüren konnte?
    Mit einer raschen Bewegung wischt Indie die Reste des Blattes von meinem Bett. Sie hat nicht einmal hingesehen. Das verrät mir, wie leid es ihr um das Bild tut: Sie wusste genau, wo die Fragmente lagen.
    Als ich sie zum Müllverbrenner bringe, schwimmen meine Augen in Tränen.
    Schon gut
, beruhige ich mich selbst.
Schließlich bleiben dir noch andere, solidere Dinge, versteckt unter dem Papier und den Blütenblättern. Mein Tablettenbehälter, den alle Bürger bei sich tragen. Das Silberetui vom Paarungsbankett.
    Kys Kompass und die blauen Tabletten von Xander.
    Normalerweise bewahre ich den Kompass und die Tablette nicht ständig in meinem Beutel auf. Dafür sind sie zu wertvoll. Ich weiß nicht, ob die Funktionäre in meinen Sachen schnüffeln, aber die anderen Mädchen tun es ganz sicher.
    Jedes Mal, wenn ich in einem neuen Lager ankomme, vergrabe ich deshalb den Kompass und die blauen Tabletten und hole sie erst kurz vor der Abreise wieder hervor. Beides ist nicht nur illegal, sondern für mich auch sehr wertvoll: Der goldglänzende Kompass kann mir die Richtung weisen, und die blauen Tabletten können mich auch ohne Wasser und Nahrung ein bis zwei Tage länger am Leben erhalten, das hat uns die Gesellschaft jedenfalls immer so erklärt. Xander hat mehrere Dutzend dieser Tabletten für mich gestohlen, so dass ich eine relativ lange Zeit überstehen könnte. Zusammen könnten diese beiden Geschenke mich vor dem sicheren Tod bewahren.
    Wenn ich doch nur zu den Äußeren
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