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Caroline

Caroline

Titel: Caroline
Autoren: Felix Thijssen
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spazierte aus dem Hotel hinaus und trank noch eine Tasse Kaffee auf der Terrasse des Lou Pitchoun am Hafen. Es war unser erster Streit.
    CyberNel schien sich wieder ein bisschen beruhigt zu haben, aber ich spürte, dass ihr etwas auf dem Herzen lag, obwohl sie sich Mühe gab, es hinter einer Tirade über die stumpfsinnige Fernsehunterhaltung zu verbergen, von der sie, verärgert und allein, einen Querschnitt konsumiert hatte.
    »Thema des Abends: ›Für einen Tag möchte ich mal nicht meiner Zwillingsschwester ähnlich sehen.‹ Kannst du dir das vorstellen?«
    »Waren es hässliche Zwillingsschwestern?«
    Nel machte ein Gesicht, als erinnerte ich sie an etwas Unangenehmes.
    Ich hatte sowohl das Schwimmen als auch das Lesen in ungemütlicher Position, im Sand oder an einen harten Felsen gelehnt, ziemlich satt und Nel hatte keine Lust an den Strand zu gehen, weil Wolken den Himmel oder ihr Gemüt verdunkelten. Picknicken konnte ich fast genauso wenig leiden, doch es gab im Inneren der Insel keine Restaurants, und ehe ich mich versah, lief ich mit Lunchpaketen und einem vom Hotel dazugelieferten albernen Rucksäckchen durch die Gegend. Wir hatten das Fort von St. Agatha besichtigt, wofür ein ziemlich steiler Aufstieg vonnöten war, und folgten dem schmalen, asphaltierten Weg über den Dünenring rund um die Insel. Hier und dort mussten wir Bikinimädchen auf Mietfahrrädern ausweichen. Die Strände waren überfüllt, das Inselinnere dagegen so gut wie verlassen.
    »Zwei dicke Mädchen in identischen Kleidern und mit identischem Haarschnitt eröffnen, dass sie schon seit sechsundzwanzig Jahren Zwillinge seien, und der Saal tobt, als hätten sie Wimbledon gewonnen.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte ich mitfühlend. »Müssen wir wirklich einmal ganz herumlaufen?«
    Der Rucksack wurde immer schwerer, hauptsächlich wegen der Flasche Weißwein, die ich samt Korkenzieher als kleinen Trost zu den Lunchpaketen hinzugefügt hatte. Nel studierte die Karte und zeigte auf einen Weg, der auf halber Strecke des Rundwegs zur Mitte der Insel führte. »Ich meine, ich verstehe einfach nicht, warum die Fernsehmacher glauben, dass die Zuschauer so was sehen wollen«, sagte sie.
    »Viele Leute gucken ja sogar anderen gerne beim Aufs-Klo-Gehen zu, denk nur mal an Big Brother, und da meinen die Produzenten wohl, es gäbe überhaupt keine Grenzen des guten Geschmacks mehr. Hauptsache, sie liefern dem Publikum Gelächter aus der Konserve dazu.«
    Wir fanden die Abzweigung und ließen den Blick über die offenen Felder und die Weingärten im Herzen der Insel schweifen. Überall roch es nach Kräutern, Wacholderbeeren und paradiesischer Wärme. Der Wein knallte mir in den Rücken, als ich mich zu Nel umdrehte, um sie zu umarmen. »Nelleke«, sagte ich, »komm mal her. Ich bin wahnsinnig verliebt in dich.«
    »Ich auch in dich«, sagte Nel. »Aber ich meine, vielleicht gibt es unter allen Zwillingspaaren Frankreichs drei, die für einen Tag einander nicht ähnlich sehen wollen. Und anstatt dass sie sich einfach unterschiedlich anziehen oder sich die Haare färben oder sich ein Ohr abschneiden, wird eine abendfüllende Show auf die Beine gestellt und das französische Volk mit den Problemen dieser blöden Gänse belästigt. Und das Publikum applaudiert auch noch!«
    »Ach was«, sagte ich. »Das ist bloß Konditionierung. Ein Leuchtkasten mit der Aufschrift Applaus geht an, und dann klatscht der Saal, die können nicht anders. Man hört selten jemanden lachen, nur klatschen. Das Lachen kommt aus einer anderen Konserve.«
    »Ist deine Hand unter meiner Bluse auch Konditionierung?«
    »Ja und nein.« Ich zog sie enger an mich, sodass sich meine Hand unter ihrer Bluse noch fester an ihre Brust drückte. »Das hier ist Liebe.«
    Nel erwiderte meinen Kuss und schaute mir in die Augen, und ich begriff, dass es nicht die Fernsehshows waren, die ihr so schwer im Magen lagen, oder vielleicht das allmähliche Aussterben intelligenter Lebensformen, sondern die Tatsache, dass wir schon seit drei Tagen hier waren und trotz meines in einem unbedachten Augenblick gegebenen Versprechens noch immer nicht über unsere Zukunft geredet hatten.
    »Konditionierung ist eine andere Form von Totsein«, erklärte Nel düster.
    Sie lachte wieder, als ich sie unter den weit ausladenden Pinien fotografierte, die wie ein Baldachin über ein Stück Weg mitten auf der Insel gewachsen waren. Ich bekam allmählich Hunger und sah zu meinem Missfallen, dass auf der Holzbank
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