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Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Titel: Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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das Zimmer des Sohnes und deckt ihn zu. Tohrberg denkt daran, wie sie ihn in Daressalam aus dem Waisenhaus abgeholt haben, wie dünn der Junge in den ersten Monaten war und wie er immer gefroren hat. Die Taufe war vor acht Jahren, sie nannten den Jungen Sebastian. Nach der Kirche haben sie im Garten gegrillt, Carls Mutter trug Absätze, mit denen sie auf dem Rasen einsank. Über die Nachbarn, ein alternatives Lehrerehepaar, sagte sie: »Oje, da kommt’s Milieu.« Den Jungen wollte sie nicht auf den Arm nehmen. Tohrberg hörte, wie sie nachts mit ihrer Schwester telefonierte. »Er ist ganz schwarz«, sagte sie. »Weißt du, das geht doch nicht, ein Neger, und ihn dann auch noch Sebastian zu nennen, wie unseren Großvater.«
    Tohrberg hofft, dass noch etwas passiert, aber es passiert nichts. Es ist still im Haus. Lange sitzt er im Dunkeln auf einem winzigen Kinderstuhl vor dem Bett seines Sohnes.
    Der Abflug am nächsten Tag verspätet sich um eine Stunde, es gibt nicht genug Enteisungsmaschinen. Sebastian wird unruhig, er will nicht mehr im Flugzeug sitzen, sein Nintendo hat er zu Hause vergessen. In Salzburg warten sie am Gepäckband lange auf die Koffer. Tohrberg erkennt einen entfernten Onkel und versteckt sich hinter einer Säule. Sie nehmen ein Taxi.
    Als sie ankommen, sagt seine Mutter: »Warum ist er so spät?« Sie habe nicht mehr warten können, es seien so unangenehme Leute im Flughafen gewesen. Carl trägt das Gepäck ins Haus. Eine halbe Stunde später fahren sie zur Pfarrkirche Aigen an der Schwarzenbergpromenade, seine Mutter begrüßt jeden, küsst jeden und redet ununterbrochen. Sie trägt ein Dirndl (»nur die vom Lanz, andere kann man ja gar nicht anziehen«) und einen gefütterten Lodenmantel. Tohrberg friert, während der Messe schläft er ein. Als der Priester die Weihnachtsgeschichte vorliest, stößt ihn seine Mutter an und flüstert, Sebastian könne doch bald den einen der Heiligen Drei Könige spielen.
    Im Kaminzimmer ist für das Abendessen gedeckt, grüngeflammte Gmundener Keramik, Kristallgläser. Tannenzweige und silberne Weihnachtskugeln liegen auf dem Tisch. 20 Menschen sind eingeladen, hauptsächlich Familie. Ein Flüchtlingsehepaar aus Rumänien bedient. In dem Raum wird es stickig, es liegt zu viel Holz im Kamin, die Kerzen am Christbaum brennen. Carl sitzt einer Opernsängerin mit hochgesteckten Haaren gegenüber. Nach Bouillon und Gänseleberpastete ist ihr Gesicht rot. Carls Mutter unterhält alle.
    Tohrberg spielt mit der zweiten Gabel, die neben seinem Teller liegt. »Ihre Aussteuer«, denkt er, »das Wappen der Lychen auf dem Griff.« Er sieht seinen Sohn, der mit anderen Kindern auf dem Boden sitzt und Geschenke auspackt. Alles ist friedlich.
    Als er sich zurück zum Tisch dreht, fallen ihm zum ersten Mal die beiden Weihnachtskugeln auf. Sie liegen direkt nebeneinander vor ihm. In einer sieht er das Spiegelbild der anderen, in diesem Spiegelbild wieder ein Spiegelbild und immer so weiter, die Unendlichkeit auf endlicher Fläche. Tohrberg verliert sich. Er hört jetzt nicht mehr, was um ihn herum gesprochen wird. Die Opernsängerin wird später sagen, er sei ganz bleich geworden. Tohrberg beginnt zu rechnen, Formeln, Zahlenreihen, Fraktale, Vektoren, Flächen, Volumen. Sein Verstand rast, auf seiner Stirn steht kalter Schweiß. Eine winzige Änderung des Blickwinkels führt zu neuen Bildern, neuen Ergebnissen, Chaos in mathematischem Sinn. Seine Berechnungen werden immer komplizierter, Halbkugel, Zylinder, innere und äußere Kreisfläche, Rotation, euklidischer Raum, Cavalieris Prinzip … Plötzlich endet alles.
    Tohrberg glaubt, sein Gehirn würde weiß, eine breite, stille Winterlandschaft. Es ist ihm nicht unangenehm, er schließt die Augen. Er sieht sich dort gehen, ein schwarzer Punkt im Nichts. Er bleibt stehen und gräbt ein Bild aus dem Schnee: Holbeins »Gesandte«, 1533 gemalt. Zwei prächtig gekleidete Männer, offenbar Diplomaten, stehen nebeneinander, zwischen ihnen die Symbole der damaligen Welt: Astronomie, Mathematik, Theologie, Geografie, Religion, Musik. Es ist ein Meisterwerk, aber etwas stimmt nicht damit – etwas Graues ragt von links unten in das Bild, seltsam verzerrt. Nur wenn das Gemälde nicht von vorn, sondern aus einem extrem flachen Winkel betrachtet wird, schält sich aus der Leinwand ein zweites Bild: der Totenschädel. Tohrberg ist ganz nah an den Knochen, den Kiefern, den Augenhöhlen. Er weiß jetzt, was er tun muss.
    Er steht auf,
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