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Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Titel: Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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setzt sich auf seinen alten Platz. Die Kollegen begrüßen ihn freundlich, er erzählt von Venedig und München und wie schön die viele freie Zeit sei. Am späten Nachmittag sitzt er alleine in der Kantine, er liest noch ein wenig in den liegen gelassenen Zeitungen, dann geht er nach Hause.
    Am nächsten Tag lässt er sich auf seiner alten Geschäftsstelle die laufenden Verfahrensakten zeigen. Die Sekretärinnen wundern sich, aber sie kennen ihn seit zwanzig Jahren. Er nimmt eine Akte mit in die Kantine, liest sie gründlich und schreibt einen juristisch einwandfreien Vermerk. Er heftet ihn oben auf die Akte, gibt sie in der Geschäftsstelle ab und lässt »der Frau Kollegin schöne Grüße« ausrichten.
    Nachdem Seybold acht Wochen lang jeden Tag Vermerke abgeliefert hat, bittet die junge Richterin den Amtsgerichtspräsidenten um Hilfe. Sie überlegen, wie man Seybold stoppen kann, ohne ihn zu verletzen. Der Präsident ist ratlos. Am Ende sagt er, die Richterin solle ihm nur alte Akten geben lassen, abgeschlossene Fälle. Irgendwann würde er sicher von alleine damit aufhören.
    Seybold ist das egal. Auch dass die jüngeren Kollegen ihn in der Kantine meiden, stört ihn nur am Anfang. Ihm fällt auf, dass die Älteren nicht mehr über ihre Fälle sprechen, wenn er an ihren Tisch kommt. Meistens sitzt er jetzt allein, dicht am Fenster, wenigstens das Licht soll gut sein.
    An einem Mittwoch verlässt Seybold um sechs Uhr abends das Gerichtsgebäude. Wie immer nimmt er den Weg durch den kleinen Park. Vor seinem Wohnblock stehen Garagen, niedrige Bauten, wie es sie in Berlin oft gibt. Plötzlich sieht Seybold zwei Autodiebe in einer der Garagen stehen. Einer von beiden hat einen langen Draht in der Hand, den er zwischen Fenster und Tür eines Wagens versenkt, der andere passt auf. Seybold zögert nicht. Er schleicht sich an, reißt das Garagentor herunter und dreht den Griff herum. Die Diebe hämmern von innen gegen das Tor, das Metall vibriert. Seybold stemmt sich dagegen. Er winkt eine Fußgängerin zu sich und bittet sie, die Polizei zu rufen, ein Einbruchdiebstahl habe stattgefunden, er habe die Täter gefangen. Er sieht auf die Uhr, er will sich alle Zeiten merken. Der Funkstreifenwagen trifft nach 8 Minuten und 49 Sekunden ein. Seybold weist die jungen Polizisten in den Tatort ein und gibt die Garage frei. Er sieht zu, wie die jungen Männer verhaftet und abgeführt werden. Auf der Polizeistation gibt er seine Aussage zu Protokoll, emotionslos, klar und so, wie er es sich immer von einem Zeugen gewünscht hat. Dann geht er nach Hause. Seybold ist zufrieden.
    Der Staatsanwalt bekommt am nächsten Morgen einen Anruf des ermittelnden Kriminalbeamten. Die jungen Männer, die Seybold gefangen hat, sind die Söhne des Wagenbesitzers. Ihr Vater hatte seinen Schlüssel im Wagen liegen lassen und die Jungs gebeten, ihn wieder herauszuholen. Seybold hat ihnen »die Freiheit entzogen« – ein schweres Delikt. Dem Staatsanwalt ist die Sache unangenehm, er kennt Seybold. Eine halbe Stunde später ruft die Pressestelle bei dem Staatsanwalt an, es gebe eine Anfrage einer Boulevardzeitung. Der Autobesitzer ist Journalist und will einen Artikel über den Vorfall schreiben. Schließlich entscheidet der Staatsanwalt, alles nach Vorschrift zu machen. Er trägt Seybold als Beschuldigten ein und lädt ihn zur Vernehmung.
    Am Freitag will Seybold wie gewohnt ins Gericht gehen. Auf dem Weg sieht er am Kiosk einen Aufsteller mit der Schlagzeile: »Berliner Richter läuft Amok«. Seybold hat diese Zeitung immer nur gelesen, wenn sie etwas über seine Fälle gebracht hat. Aber jetzt interessiert es ihn: Ein Richter, der Amok läuft, beschädigt das Ansehen des Berufsstandes, denkt er. Er kauft die Zeitung, geht in sein Café, bestellt ein Croissant und beginnt zu lesen. »Richter S. aus Berlin sperrt unschuldige Jugendliche in eine Garage.« Er liest den Artikel und sieht sich die Bilder an. Und dann liest er alles noch einmal. Seybold trinkt aus, faltet die Zeitung sorgfältig zusammen, zahlt und geht wieder nach Hause.
    Nachdem der Staatsanwalt die Zeugin und die Jugendlichen angehört und Seybold eine schriftliche Aussage gemacht hat, wird das Verfahren wegen geringer Schuld eingestellt. Der Bescheid wird Seybold am 22. Dezember zugestellt, er quittiert den Empfang an seiner Wohnungstür.
    Seybolds Schwester versucht ihren Bruder an den Weihnachtstagen vergeblich anzurufen. Kurz nach Silvester trifft eine Karte Seybolds bei ihr ein,
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