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Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Titel: Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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gehe nach Japan«, sagte der Bäcker und wartete ein bisschen, weil er die Reaktion des Kioskbesitzers sehen wollte. »Ich mache in Tokio eine Konditorei auf. Dort leben fünfunddreißig Millionen Menschen. Wissen Sie, die Japaner essen gerne Torte, das habe ich mal in der Zeitung gelesen. Besonders gerne essen sie Schwarzwälder Kirschtorte. Ich kann eine sehr gute Schwarzwälder Kirsch machen.«
    »Ich bin sicher, dass sie gut ist«, sagte der Kioskbesitzer.
    »Bei der Schwarzwälder Kirsch kommt es auf das Kirschwasser an. Man muss richtig gutes Kirschwasser nehmen, nur das, was sie aus den dunklen Schwarzwaldkirschen machen. Aber man braucht beides: den Obstbrand und den Saft der Sauerkirschen. Man darf an nichts sparen, das ist das ganze Geheimnis.«
    Sie tranken den Kaffee aus den Tassen mit dem Logo der Firma. Der Bäcker beugte sich vor, damit er nicht auf sein Hemd tropfte.
    »Sie müssen mich dort besuchen kommen. Ich rufe Sie an, wenn die Konditorei läuft, und dann kommen Sie.«
    Der Kioskbesitzer nickte. Der Bäcker wischte sich die Hände an der Hose ab.
    »Die Japanerinnen mögen dicke Männer«, sagte er etwas leiser und sah den Kioskbesitzer nicht mehr an. »Sumo-Ringer sind dort wie Popstars … Und vielleicht kommt mein Sohn ja auch irgendwann nach Japan, verstehen Sie, wenn er selbst entscheiden kann.«
    Als der Bäcker an diesem Abend im Bett lag, dachte er wieder an Sakura. Irgendwann schlief er ein und träumte davon, wie die Japaner in Tokio seine Schwarzwälder Kirschtorten essen würden, und als er aufwachte, dachte er nicht mehr an Sakura. Er nahm die Kette mit dem Panther vom Nachttisch, er hatte sie von Blut und Hautfetzen gereinigt, und jetzt sah er sie lange an. Alle Dinge fließen ineinander, dachte er, aber er wusste nicht, woher dieser Gedanke kam. Dann schloss er die Augen und hörte durch das offene Fenster den Eisregen.

Seybold

D ie Justiz in Berlin stellt Seybold mit neunundzwanzig als Richter auf Probe ein, drei Jahre später ist er Amtsrichter auf Lebenszeit. Schon am ersten Arbeitstag kennt er das Datum seiner Pensionierung. Seybold legt fest, welche Kleidung er für den Rest seines Lebens tragen wird: grobe Anzüge, weiße Hemden, schwarze Schuhe. Jeden Morgen rasiert er sich, nie geht er ohne Aktentasche und nie ohne Regenmantel aus dem Haus. Er mietet eine Dreizimmerwohnung in einem Neubau, 90 Quadratmeter, zwei helle Räume und ein Schlafzimmer, nicht weit entfernt vom Gericht. Die Einrichtung ist praktisch und bequem, es gibt ein Bücherregal, einen Schreibtisch und ein Sofa. Seybold ist in keiner Partei, er war nie auf einer Demonstration, er gehört keinem Verein an. Die meisten Politiker hält er für eitel. Einmal im Jahr nimmt er am Juristenball teil, ansonsten besucht er jeden Monat das Theater, alle drei Wochen geht er zum Friseur, und alle zwei Monate telefoniert er mit seiner Schwester. Morgens liest er den Tagesspiegel, seine Bücher bestellt er in einer Buchhandlung auf dem Weg zum Gericht. Seybold mag Biografien, er besitzt ein Radio, aber weder einen Fernseher noch ein Auto. Seine teuerste Anschaffung: sämtliche Bände des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, er liest gerne in ihnen. In den Sommerferien fährt er immer nach Meran in ein Viersternehotel, preiswert, sauber, vernünftiges Essen. Mit 48 braucht er eine Lesebrille, das Gestell wechselt er nie wieder, nur die Gläser werden stärker. Einmal hat er eine Affäre mit einer verheirateten Staatsanwältin. Als es kompliziert wird, lässt er die Sache auslaufen. Er geht nie in ein Bordell, und er beteiligt sich nicht an Herrenwitzen. Sex hält er für maßlos überbewertet.
    Seybold will keine Karriere machen. Er bleibt sein Leben lang Amtsrichter, zuständig für die kleineren Delikte: Einbruchdiebstahl, Betrug, ab und zu etwas Außergewöhnliches wie unerlaubte Abfallbeseitigung oder sexuelle Nötigung. Fast alle Straftaten kommen ihm seltsam vor, er versteht die Angeklagten nicht, ihre Motive bleiben ihm fremd. Er verachtet die Kollegen, die sich in der Presse hervortun. Das Gebot der richterlichen Mäßigung bestimmt sein Leben: Weder im noch außerhalb des Dienstes soll jemand an seiner Unabhängigkeit zweifeln können. Unter den Kollegen gilt er als hilfsbereit, seine Prozesse macht er ohne viel Aufhebens, in der Regel entscheidet er richtig. Er ist weder streng noch milde, und er hält sich mit Fachzeitschriften auf dem Laufenden. Eine kurze Zeit war Seybold
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