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Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
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Stundenglas, es ist wie ein Berg,
     der im Meer versinkt.
    »Sag mal, Vitali, wie hat das Leben es geschafft, dich so jung zu einem solchen Zyniker zu machen?«
    Vitali zuckt die Schultern. »Vielleicht bin ich nicht zum Versager geboren wie du, Tomek.«
    »Vielleicht bist du noch jung genug, um was zu lernen.«
    Wie kann er diesem ungeduldigen jungen Mann etwas |23| klarmachen, das zu begreifen er selber fünfundvierzig Jahre gebraucht hat – dass Verlust ein wesentlicher Teil des Menschseins
     ist? Dass wir auf unserer langen einsamen Straße, Bestimmungsort unbekannt, immer etwas zurücklassen müssen? Den ganzen Morgen
     schon versucht er, einen Song darüber zu komponieren.
    Jetzt legt er das Fernglas hin, greift nach der Gitarre und fängt an zu zupfen, während er mit dem Fuß den Rhythmus klopft.
     
    Es war mal ein Mann, der bereiste die Welt –
    auf der Suche nach Macht, nach Ruhm oder Geld?
    Auf der Suche nach Sinn, nach Wahrheit, nach   …
     
    An dieser Stelle bleibt er jedes Mal stecken. Wonach kann der verfluchte Kerl sonst noch suchen?
    Vitali sieht ihn mitleidig an. »Sonnenklar. Er sucht jemand zum Ficken.«
    Dann nimmt er das Fernglas, stellt die Schärfe ein und pfeift leise durch die Zähne.
    »Hey, schwarzer Mann«, ruft er Emanuel auf Englisch zu, »komm, sieh dir das an. Genau wie der Slip, den Katie auf meinem Poster
     anhat. Oder vielleicht   …«, er dreht an der Schärfe herum, »…   ist es so ein Netz, in dem man Salami einpackt.«
    Emanuel sitzt am Tisch, kaut an einem Bleistift und wartet auf Einfälle für den Brief, den er schreibt.
    »Lass ihn in Ruhe«, sagt Tomasz. »Emanuel ist nicht so wie du. Er   …«, er zupft ein paar Saiten, während er nach dem richtigen Ausdruck sucht, »
in diesem Fiberglaskasten sucht er nach einem Juwel

    »Noch so ein Versager«, schnaubt Vitali.
     
    |24|
Liebe Schwester,
    vielen Dank für das Geld, das du geschickt hast, denn mit seiner Hilfe konnte ich von Zomba nach Lilongwe und weiter über
     Nairobi nach England reisen. Ich hoffe, diese Zeilen erhalten dich, denn als ich nach London an der Adresse klopfte, die du
     gabst, war ein anderer Name an der Tür geschrieben und niemand wusste von deinem Verbleiben. Weil ich des Geldes bedurfte,
     fiel ich unter die Erdbeerenpflücker und wohne mit drei Mzungus in einem Wohnwagen hier in Kent. Mit aller Macht bin ich bestrebt,
     mein Englisch zu verbessern, doch die englische Zunge ist wendig wie eine schlüpfrige Schlange, und ich denke immer an den
     Unterricht bei Schwester Benedicta und ihren gestrengen Stock der Züchtigung. Und so schreibe ich voller Hoffnung, dass du
     mögest dorthin kommen und diese Briefe finden und deine Korrekturen über sie niedergehen lassen, liebe Schwester. Und ich
     werde dich regulärig informieren über meine Abenteuer in diesem regengeplagten Land.
     
    Von deinem geliebenden Bruder Emanuel!
     
    Der Frauenwohnwagen steht schon in der Sonne, aber sie hat den Fuß des Feldes noch nicht erreicht, wo Andrij im Männerwohnwagen
     an der Küchenzeile herumhantiert und versucht, das Gas unter dem Teekessel anzumachen. Die derben Sprüche im Schlafraum nerven
     ihn, und er will nicht, dass die anderen mitkriegen, welche Unruhe ihn seit gestern ergriffen hat. Er reißt das nächste Streichholz
     an. Die Flamme zischt hoch und verbrennt ihm die Finger, ohne das Gas zu entzünden. Himmel, Arsch und Zwirn! Dieses Mädchen,
     die Neue aus der Ukraine – als ihre Blicke sich trafen, hat sie ihn da auf eine besondere Art angelächelt?
    Er lässt die Szene im Kopf noch einmal ablaufen, wie im |25| Kino. Es war gestern um die gleiche Zeit. Wie gewöhnlich kam Bauer Leapish mit dem Frühstück, den Paletten mit leeren Erdbeerkörben
     und dem Schlüssel zum Container. Plötzlich steigt jemand aus der Beifahrertür des Landrovers, ein hübsches Mädchen mit einem
     langen dunklen Zopf, der ihr auf den Rücken hängt, und funkelnden braunen Augen. Und mit diesem Lächeln. Sie tritt auf das
     Feld, sieht hierhin und dorthin. Er steht beim Tor, und dann dreht sie sich zu ihm um und lächelt. Aber hat sie ihn gemeint
     mit ihrem Lächeln? Das würde er gern wissen.
    Beim Abendessen hat er sich neben sie gesetzt.
    »Hallo. Ukrainka?«
    »Natürlich.«
    »Ich auch.«
    »Das sehe ich.«
    »Wie heißt du?«
    »Irina.«
    Er hat gewartet, dass sie fragt – und du?   –, aber sie fragt nicht.
    »Andrij.«
    Er hat gewartet, dass sie was sagt, aber sie sagt nichts.
    »Aus Kiew?«,
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