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Camp Concentration

Camp Concentration

Titel: Camp Concentration
Autoren: Thomas M. Disch
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Juni
    Haast hat mir schriftlich mitgeteilt, daß meine elektrische Schreibmaschine an einen Apparat angeschlossen ist, der alles, was ich tippe, automatisch ablichtet. Vier Kopien. H. H. bekommt das Tagebuch also ›frisch aus der Presse‹ - und spart das Geld fürs Kohlepapier.
    Habe heute den ersten Beweis dafür erhalten, daß hier wirklich aufzeichnenswerte Dinge vor sich gehen:
    Auf dem Weg zur Bibliothek, wo ich mir Tonbänder für mein (ausgezeichnetes) Hi-Fi-Gerät holen wollte, begegnete ich einer der Geistererscheinungen, die diesen Kreis meiner neuen Hölle bewohnen - den ersten Kreis, Limbo, um Dantes Reihenfolge einzuhalten; und wenn ich den Vergleich noch weiter treibe, müßte diese Gestalt der Homer unserer dunklen Gefilde sein.
    Es war dunkel, denn in diesem Korridor hatte man die Neonröhren entfernt, und wie in offenen Gefilden wehte in dem streng geometrischen Raum unablässig ein kühler Wind - wahrscheinlich auf eine unregelmäßig arbeitende Entlüftungsanlage zurückzuführen. Er stand mitten im Gang, hatte das Gesicht in die Hände vergraben und weizenblonde Haarsträhnen um die zuckenden Finger gewickelt. Er schwankte und schien vor sich hinzuflüstern. Ich ging auf ihn zu, und da er seine Meditation nicht unterbrach, sagte ich laut: »Guten Tag!«
    Als er wieder nicht reagierte, wagte ich mich weiter vor. »Ich bin hier fremd. Ich war in Springfield eingesperrt. Kriegsdienstverweigerer. Man hat mich widerrechtlich hierher gebracht. Weiß Gott warum.«
    Er nahm die Hände vom Gesicht und sah mich mit zusammengekniffenen, hinter wirr herabhängendem Haar halbverborgenen Augen an. Ein breites junges Gesicht, slawisch und einfältig wie die Gesichter der heldenhaften Nebenfiguren in einem Filmepos von Eisenstein. Seine breiten Lippen zogen sich zu einem unsicheren Lächeln auseinander - es war wie ein frostiger Mondaufgang im Theater. Er hob die rechte Hand und berührte meine Brust mit drei Fingern, als wollte er sich vergewissern, daß ich wirklich da war. Dann wurde sein Lächeln zutraulicher.
    »Wissen Sie, wo wir sind?« fragte ich hastig. »Und was sie mit uns vorhaben?«
    Die fahlen Augen bewegten sich hin und her - aus Verwirrung, aus Angst?
    »In welcher Stadt sind wir? In welchem Staat?«
    Wieder dieses frostige Lächeln des Verstehens, als meine Worte endlich sein Bewußtsein erreicht hatten.
    »Wir wissen nur, daß es einer der Gebirgsstaaten sein muß. Wegen Time, wissen Sie.«
    Er deutete auf die Zeitschrift in meiner Hand. Er hatte einen schauderhaft nasalen mittelwestlichen Tonfall, der offenbar nie durch Erziehung oder Reisen gemildert worden war. Nach Sprache und Aussehen war er ein typischer Bauernjunge aus Iowa.
    »Wegen Time?« fragte ich verständnislos. Ich betrachtete das Titelbild (General Phee Phi Pho Phum aus Nordmalaysia oder irgendeine andere gelbe Gefahr), als könnte ich dort eine Erklärung finden.
    »Es ist eine Regionalausgabe. Time erscheint in verschiedenen Ausgaben. Wegen der Annoncen. Und wir bekommen die Ausgabe für die Gebirgsstaaten. Dazu gehören Idaho, Utah, Wyoming, Colorado ...« In seiner Aussprache hörte sich das an wie der nasale Klang angerissener Gitarrensaiten.
    »Ach so! Endlich ist bei mir der Groschen gefallen!«
    Er seufzte tief.
    Ich hielt ihm die Hand hin, und er reagierte mit unverhohlener Zurückhaltung. (In diesem Land gibt es Gegenden, besonders an der Westküste, wo man es aus Furcht vor Bakterien nicht mehr für angebracht hält, einander die Hand zu schütteln.)
    »Mein Name ist Sacchetti. Louis Sacchetti.«
    »Ach Sie sind’s!« Er umkrampfte meine Hand. »Mordecai hat gesagt, daß Sie kommen. Ich bin froh, Sie kennenzulernen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen ...« Er unterbrach sich, wurde rot und zog seine Hand zurück. »Wagner«, murmelte er verlegen. »George Wagner.« Dann, mit einer gewissen Bitterkeit: » Sie haben natürlich nie von mir gehört.«
    Diese seltsame Form der Vorstellung habe ich anläßlich von Lese- und Diskussionsabenden sowie bei anderen Autoren kleiner literarischer Zeitschriften und bei Collegeassistenten, also bei noch unbedeutenderen Typen als ich es bin, so oft erlebt, daß ich fast automatisch antwortete: »Nein, leider nicht, George. Tut mir wirklich leid. Aber es überrascht mich, daß Sie von mir gehört haben.«
    George gluckste. »Es überrascht ihn ...«, näselte er, »daß ich ... von ihm gehört habe!«
    Was ich ziemlich beunruhigend fand.
    George schloß die Augen. »Entschuldigen Sie«,
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