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Cambion Chronicles - Golden wie das Morgenlicht (German Edition)

Cambion Chronicles - Golden wie das Morgenlicht (German Edition)

Titel: Cambion Chronicles - Golden wie das Morgenlicht (German Edition)
Autoren: Jaime Reed
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an mich gerichtete Notiz auf einer weißen Karteikarte. Zuerst erkannte ich die krakelige Handschrift gar nicht. Sie erinnerte mich an meine ersten Schreibschriftübungen in der Grundschule, als ich mich noch an den Linien entlanghangelte.
    Wenigstens musste ich mir keine Sorgen machen, dass Lilith mal meine Unterschrift fälschen könnte – obwohl die runden Schlaufen an Y, Q und G schon sehr authentisch aussahen. Lilith lebte jetzt seit fast sechs Monaten in mir und hatte freien Zugang zu all meinen Erinnerungen. Da war es nur natürlich, dass sie ein bisschen was aufgeschnappt hatte. Ihre Intelligenz und ihr Wissen über die Welt um sie herum hätten mich eigentlich nicht schockieren dürfen, aber genau das taten sie. Als ich die Botschaft auf der Karte las, wurde das Gefühl noch schlimmer.
    Samara,
    ich habe diese Erinnerungen vor dir versteckt.
    Geh ihnen nicht nach, stell keine Fragen.
    Genieße den Frieden, den das Nichtwissen mit sich bringt.
    Du bist jetzt in Sicherheit.
    Vergiss, dass es passiert ist.
    Es tut mir leid.
    Lilith
    War das ihr Ernst? Erwartete sie wirklich, dass ich die ganze Geschichte einfach so unter den Teppich kehrte, nur weil ich ein gespenstisches Haiku auf einer Karteikarte gelesen hatte? Was versuchte sie zu verbergen? War es so schlimm, dass es sich lohnte, einen ganzen Nachmittag aus meinem Leben zu löschen? Lilith hatte sehr deutlich gemacht, dass sie von ihrer Entscheidung keinen Millimeter abrücken würde, also würde ich wohl selbst Nachforschungen anstellen müssen.
    Aber zuerst musste ich dieses verdammte Armband finden.
    Ich suchte im Badezimmer danach, fand dort aber nur meine Klamotten im Wäschekorb. In der Jeanstasche steckte noch mein Haustürschlüssel, aber kein Armband. Panisch durchwühlte ich Moms Zimmer und lief dann nach unten, um in der Küche und im Esszimmer nachzusehen. Als ich auch dort keinen Erfolg hatte, ging ich durch die Diele ins Wohnzimmer. Meine Füße bewegten sich ohne mein Zutun, während der Rest meines Körpers das Unvermeidliche hinauszuzögern versuchte. Doch es führte kein Weg daran vorbei – das Wohnzimmer war der einzige Ort, an dem ich noch nicht nachgeschaut hatte.
    Ich fühlte mich wie dieser Typ in Pulp Fiction, der um jeden Preis die Uhr seines Vaters zurückholen muss. Mein Armband hatte für mich einen ähnlich großen Wert, allerdings ohne so eine eklige Vorgeschichte wie in dem Film. Und ich musste mich keinem Gangsterboss stellen, sondern einem Geist, einem Phantom namens Nadine Petrovsky, Liliths ehemaliger Wirtin.
    Ich war überzeugt, keine Wahnvorstellungen zu haben – in diesem Teil des Hauses spukte es tatsächlich. Aber war da wirklich etwas, oder gaukelte mein neurotischer Geist es mir nur vor? Wenn man zusieht, wie eine gute Freundin im eigenen Wohnzimmer stirbt, kann so was schon mal passieren. So oder so, schon wenn ich an der Wohnzimmertür stand, musste ich mich jedes Mal auf schlimme Dinge gefasst machen.
    In einem Anfall von Tapferkeit stürmte ich in die Mitte des Zimmers und suchte mit den Augen nach etwas Glänzendem. Als ein schrilles Läuten die Stille durchbrach, fuhr ich zusammen. Langsam drehte ich mich um und sah das Telefon in seiner Station auf dem Couchtisch stehen. Die Nummer des eingehenden Anrufs leuchtete auf dem kleinen Display auf.
    Es klingelte wieder, und fast konnte ich Moms Ungeduld am anderen Ende der Leitung spüren. Genau wie sie selbst war das Klingeln von einer bohrenden Beharrlichkeit, als bestünde es auf einer Antwort, ob es mir gefiel oder nicht.
    Ich machte mich so lang, wie ich konnte, und zog das Telefon aus der Station. Dabei achtete ich darauf, nicht näher an das Sofa zu gehen als nötig und das hübsche blonde Mädchen nicht anzuschauen, das mit verdrehten Gliedern auf dem Boden lag. Von meinem Standpunkt aus konnte ich ihre langen goldenen Haare, den ausgestreckten bleichen Arm und ihr zartes Handgelenk sehen.
    Wenn ich es mir hartnäckig genug einredete, konnte ich so tun, als schliefe sie nur, wie Dornröschen, als sie sich den Finger an der Spindel sticht. Aber Lilith wusste es besser, ich wusste es besser, und irgendwie hasste ich Nadine dafür, dass sie mir diese Bürde hinterlassen hatte. Vielleicht war es ihre Bestrafung, dass sie auf diese Weise in der Welt der Lebenden gefangen war, für immer schön, in alle Ewigkeit jung und unwiderruflich tot.
    Ich konzentrierte mich wieder auf die aktuellere Krise, holte tief Luft und hielt das Telefon ans Ohr. »Mom?«
    »Hi,
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