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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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kleinen Finger seiner linken Hand trug, ließ aufmerken: Barg also selbst dieser Mensch irgendein Geheimnis, oder zumindest eine Sehnsucht.
    »Liebe Söhne Willy und Bernhard«, hob er an, nicht wissend, daß Bernhard fehlte, »liebe Schwiegertochter Ruth, liebe Enkel Erik, Matti und Britta, verehrte Trauergäste, Rudolf Werchow ist tot. Wir sind fassungslos in unserem Schmerz. Und einige von uns, jene, die Rudolf, oder Rudi, wie sie ihn liebevoll nannten, besonders nahestanden, werden den Schmerz vielleicht noch lange spüren. Doch wie schon ein Sprichwort sagt: Der Tod ist nicht schlimm zu achten, dem ein gutes Leben vorangegangen. Und Rudolf Werchow, das kann man mit Fug und Recht behaupten, hat ein gutes, ein erfülltes Leben geführt. Hineingeboren in finstere Zeiten, hat er der Finsternis in seiner Nähe keinen Raum geboten …«
    Hat er doch, widersprach Willy bei sich, sogar in regelmäßigen Abständen, ich hab’s doch erfahren. Feste hat er mich verwamst, wie ein Kotelett hat er mich geklopft, und ohne erkennbaren Anlaß, reineweg nach dem Kalender, alle drei bis vier Wochen; denn mag er noch so fortschrittlich gewesen sein in seinem ganzen Denken und Handeln, was ein festes Kotelett ist, das muß bearbeitet werden, so hatte er’s einst gelernt. Willy sah sich noch einmal als Junge in der Küche stehen, sah vor sich den beigefarbenen Tisch mit der eingelassenen dunklen Linoleumplatte. Mit entblößtem Hintern hatte er an den heranzutreten, ganz nahe, so daß sein Glied an den runden Holzgriff der Besteckschublade schlug, eine angenehme Berührung eigentlich, die ihn dennoch ekelte, wegen der Spuren von Margarine, Kartoffelschalen, faulem Obst, wegen all der Rückstände, die seine Mutter mit ihren klebrigen Hausfrauenhänden an dem Knauf schon hinterlassen hatte. Er mußte sich auf die Platte stützen und die mit hornhautüberzogener Hand geführten Hiebe Rudis empfangen und außerdem, wie zur Garnierung, noch kurze Schmitzer mit den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. Doch was heißt außerdem – da die Kuppen stahlhart waren, schmerzten ihn gerade diese Wischer am meisten, nicht nur am Körper, auch in der Seele, denn gemein waren sie, gemein gerade wegen ihrer scheinbaren Flüchtigkeit.
    »… wenn wir heute zurückblicken«, fuhr der Redner fort, mit der Hand vage nach hinten weisend, wo nichts war außer einer dunkelgelben Wand, »so sehen wir aber nicht nur einen Mann, der unbeirrt seinen Weg ging. Vielmehr trat er auch für andere ein. Besonders für die Schwachen, die Mutlosen. Auch für ihre bessere Zukunft kämpfte er. Nein, Rudolf Werchow gehörte wahrlich nicht zu denen, die jene früheren Zustände hinzunehmen gewillt waren. Und genausowenig gehörte er zu denen, die nicht erkannten, daß man Bündnisse schmieden muß, um diese Zustände zu ändern. Vorbildhaft sprang er über seinen Schatten. Ungeachtet früherer Meinungsverschiedenheiten, die durchaus auch einmal handgreiflicher Natur sein konnten, setzte er hier bei uns in Gerberstedt die Einheit der Arbeiterbewegung in die Tat um. Und dies in einer unheilvollen Zeit, in der Zeit des Hitlerfaschismus …«
    Handgreiflichkeiten? wiederholte im stillen Clara Felgentreu, man höre nur, Handgreiflichkeiten, na, jetzt konnte sie schmunzeln über diese Beschönigung, die das doch war; aber damals hatte sie nicht selten aufschreien müssen, damals war sie zum grashüpfergrünen Apothekerschrank gerannt, wenn ihr Mann Franz und Rudi ins Gerberhaus gewankt kamen, blutüberstömt, manchmal einer den anderen schleifend wie einen großen Kartoffelsack, und zwar ins Gerberhaus, immer ins Gerberhaus, weil das nahe beim Sportplatz stand, wo sich, es hatte was Rituelles, ihrer beider Trupp, der sozialdemokratische, traf, dem zwei weitere Trupps gegenüberstanden, der kommunistische und der nationalsozialistische, freilich nie gemeinsam, immer nur einzeln, denn auch diese beiden Bataillone hieben kräftig aufeinander ein, in dem einen war Herbert Rabe die bestimmende Figur, und in dem anderen? versuchte Clara sich zu erinnern, welchen Namen hatten Franz und Willy denn immer genannt oder gestöhnt, gestöhnt? Auf jeden Fall der Metzger war’s, der massigste Mann im großen weiten Gau, bloß wie hieß er denn nun gleich, Gebauer? Krakauer? Schildhauer? Schildhauer!
    »… wir Heutigen aber, wir können uns wohl gar nicht mehr vorstellen, wie gefährlich das war. Wieviel Mut es erforderte, den Schlächtern die Stirn zu bieten. Über drei Jahre war der
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