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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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eigentlich, und doch so unwissend in manchen Dingen.
    »Offensichtlich hatte man sich auch hier für einen Himmlischen Frieden gewappnet«, erklärte Matti, »alles stand doch Spitz auf Knopf, wie man jetzt weiß, alles hing wohl nur von Leipzig ab«, von der großen Wochenanfangsdemo zwei Tage nach dem Republikgeburtstag.
    »Man muß diesen Freieisen belangen«, forderte Britta.
    »Wie denn?« Das war Erik, der Brittas Verlangen ins Reich des Absurden verwies.
    »Werden wir schon sehen«, sagte Matti angriffslustig, aber weiter wußte er auch nicht.
    Und Willy, über dessen Kopf hinweg das alles gesprochen worden war? Kaum merklich hob er die Hand, dazu röchelte er und schluckte. Die Gesichter, die für eine kleine Weile sich einander zugewendet hatten, fuhren wieder zu ihm herum.
    »Was redet ihr über Freieisen … Zeitvergeudung«, sagte er so unwirsch, wie es ihm noch möglich war. Er versuchte sogar, seinen Kopf aus dem Kissen zu heben. Aber vergeblich, seine faltige blasse Haut spannte und rötete sich, das war alles.
    Da lief Britta, »warte, ich bin gleich wieder hier« rufend, aus dem Zimmer. Wenig später kam sie mit noch einem Kissen zurück, das schob sie Willy vorsichtig unter den Schädel, eine rein praktische Verrichtung. Nichtsdestotrotz schaute Willy hernach etwas fester und würdevoller aus, er war nun nicht mehr wie ohne Stirn. Auch hatte er seine Kinder jetzt richtig im Blick. Und sie? Stumm saßen die drei, die eben noch durcheinandergeredet hatten. Sie regten sich nicht, sie fühlten eine gewisse Spannung; seltsam, indem sie Willy ein wenig, bloß ein wenig höhergelegt hatten, waren zugleich ihre Erwartungen an das gestiegen, was er ihnen noch sagen würde.
    Seine Rede erwies sich dann aber weder als anrührend noch als inhaltsschwer, sondern als ausgesprochen verwirrend. »Zeitvergeudung«, wiederholte er, »denn wir müssen noch etwas besprechen … besser gesagt, ich habe eine Bitte an euch, es ist der sogenannte … sogenannte letzte Wille … ja und ich denke mir, ich äußere ihn, bevor ich es vielleicht nicht mehr zustande bringe. … Wenn ich also nicht mehr da bin … nein, was rede ich, wenn ich tot bin, aber noch hier liege, dann nehmt ihr mich … und dann setzt ihr mich auf die alte Jawa und fahrt mit mir noch eine Runde … egal wohin, kreuz und quer einfach so durch Gerberstedt … fragt mich nicht warum … hehe, ihr sitzt wie die Hühner auf der Stange, einer hinterm anderen, mit dem gleichen dußligen Gesichtsausdruck, aber ich kann euch nicht weiterhelfen … wenn ihr euch mal erinnert an euren Großvater, der hat alles planen können … recht vorhersehbar ist er gestorben … absehbar für ihn selber, und darum hat er auch Zeit gehabt, sich was auszudenken, und hat in Ruhe das Fernrohr in Auftrag gegeben … eine schöne Sache, sehr schön … aber ich hatte diese Zeit nicht, alles ist so plötzlich gekommen …«
    Er mußte verschnaufen. Eine Weile hörte man nur seinen schweren Atem, jeder Zug schien verzögert zu sein.
    Dann setzte er fort: »Nein … ich bin nicht so naiv zu denken, ich hätte was davon, wenn ihr mich draußen spazieren fahrt … ich wandle da nicht auf eures Großvaters Spuren, denn wenn ich weg bin … bin ich weg. Aber trotzdem will ich herumgefahren werden, ich will! Eine Stunde sollte es sein, mindestens. Führt das aus, ich bitte euch … tut so, als hinge noch mein Leben dran, ja genau so müßt ihr … tun.«
    Nachdem er das losgeworden war, trat eine regelrechte Erschlaffung ein bei ihm, er schloß nicht die Lider, sondern sie fielen ihm buchstäblich zu, und er machte sie lange nicht mehr auf.
    Die Kinder warfen sich erstaunte Blicke zu, wagten aber nicht, sich über das Gehörte auszutauschen. Vor allem lauschten sie seinem Atem, der ihnen flacher und flacher zu werden schien.
    So saßen sie wer weiß wie lange, eine halbe Stunde, eine ganze? Manchmal stand einer von ihnen auf und vertrat sich die Beine, manchmal schaute eine Schwester herein. Draußen wurde es schon dunkel. Eine Zeitlang knipste niemand das Licht an, aber dann flüsterte Britta, sie werde es jetzt ein bißchen hell machen, vielleicht öffne der Vater ja doch nochmal seine Augen, und vielleicht könne sie ihm dann noch irgendwas Schönes sagen, dazu sei ja bisher gar keine Zeit gewesen.
    Und siehe, er tat’s, er blickte sie alle wieder an. Ein dreifaches Lächeln wurde ihm geschenkt. Er lächelte zurück, mit ein bißchen gutem Willen konnten sie jedenfalls als Lächeln
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