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Brixton Hill: Roman (German Edition)

Brixton Hill: Roman (German Edition)

Titel: Brixton Hill: Roman (German Edition)
Autoren: Zoë Beck
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Gift einatmete, würde sie sterben. Sie spürte, wie es in ihren Körper kroch. Es zerstörte sie von innen, lähmte die Muskeln. Ließ sie Dinge sehen und hören, die nicht sein konnten.
    Jemand rief: »Die Notausgänge sind blockiert.« Diesmal konnte sie die Stimme zuordnen. Es war der Buchhalter.
    Kimmy sah sich weiter um, den Körper fest gegen die Wand gepresst. Sie sah Em, die sich um Jono kümmerte, der nun mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag.
    Auf dem Boden.
    Wieso lag er auf dem Boden?
    Immer mehr Menschen drängten aus ihren Büros auf den Flur. Sie schlugen gegen die verriegelten Türen zum Treppenhaus, gegen die Aufzugtüren, gegen die Fenster. Manche telefonierten nervös. Manche schrien herum. Kimmy kannte sie alle. Und doch konnte sie die Gesichter nicht auseinanderhalten. Sie versanken in einer konturlosen Menschenmenge, ein Bild, das sich wie ein Schleier über ihren Blick legte und die Perspektiven verrückte. Wieder hörte sie jemanden rufen. »Raus hier, sofort!« Sie schloss die Augen, weil sie niemanden mehr sehen wollte, und versuchte, nicht zu atmen.
    Die Bühne.
    Noch leer, aber die Scheinwerfer waren bereits eingeschaltet.
    Lichtprobe, sagte ihr Freund. Ein Roadie erschien, und die Menge wollte schon klatschen, doch der Junge winkte ab. Dann rief jemand: »Raus hier! Sofort!« Kimmy sah sich um. Von der rechten Bühnenseite aus drang feiner weißer Nebel in den Club. Der Roadie fiel auf die Knie und hielt sich schreiend die Hände vors Gesicht. Der Nebel kam nun aus zwei oder drei anderen Richtungen.
    Mehr Schreie, mehr Rufe. Die Menge bewegte sich aufeinander zu. Kimmy war für einen Moment eingekesselt, dann stieß jemand sie zu Boden.
    Sie lag auf dem Boden.
    Füße traten auf sie ein.
    Sie würde sterben.
    Kimmy spürte das Gas in ihren Lungen. Wie es sich immer tiefer in Nase und Rachen hineinbrannte. Ihr wurde schwindelig, sie fühlte sich, als würde sie gleich umkippen. Kimmy riss die Augen auf. Blinzelte. Sie sah ihre Umgebung nur noch verschwommen, wenn überhaupt. Der Feueralarm konnte die Stimmen der Menge nicht betäuben. Wenn sie erst einmal auf dem Boden lag, würde es zu spät sein. Diesmal würde sie es nicht überleben. Diesmal würden sie ihr das Rückgrat brechen, wenn sie nicht schon vorher erstickte.
    Atmen konnte sie kaum noch.
    Kimmy Rasmussen war davon überzeugt, in diesem Moment die einzig richtige Entscheidung zu treffen. Gerade bekam sie eine zweite Chance, das war offensichtlich. Sie hielt sich ihr Halstuch vor Mund und Nase und lief durch den Nebel in Richtung ihres Büros. Jemand versuchte, sie festzuhalten, aber sie machte sich los und rannte weiter. Es war laut, alle schrien durcheinander, Hunderte Stimmen, Hunderte Menschen, die alle zum Konzert gekommen waren. Heute würde sie sich nicht aufhalten, nicht zu Boden reißen lassen. Kimmy hatte aus ihren Fehlern gelernt. Es gab nur einen Weg: raus.
    Denn sie hatte sich längst in ihrem Kopf verlaufen, war nicht mehr im Limeharbour Tower auf der Isle of Dogs, sondern im Bovine in Toronto. Ein Zustand, der sich in zehn Minuten vermutlich wieder gelegt hätte.
    Niemand hielt sie mehr auf, als sie ihr Büro betrat, einen Feuerlöscher nahm und ihn mit aller Kraft so lange gegen die Fensterscheibe schlug, bis das Sicherheitsglas zerbrach. Kimmy warf einen letzten Blick zurück. Sie sah nur dichten Rauch, roch das tödliche Gas, wusste, dass es keinen anderen Weg der Rettung gab, glaubte, dass vor ihr auf gleicher Ebene die Straße lag.
    Als Em mit ein paar anderen durch diesen Nebel trat, war Kimmy schon gesprungen.

Kapitel 3
    V or zwanzig Jahren war es noch schwer vorstellbar gewesen, in den heruntergekommenen Docklands zu wohnen, wenn man dort nicht aufgewachsen war. Vor zehn Jahren hatte man sich an den Gedanken gewöhnt.
    Die Verbesserung der Infrastruktur wurde durch einen führerlosen Zug erzielt. Die Hochhäuser bekamen eigene Fitnessräume und einen Einkaufsservice.
    Unter dem höchsten Hochhaus, dem One Canada Square, entstand eine Shoppingmall der oberen Preisklasse.
    In der U-Bahn-Station liefen Kurzfilme.
    Canary Wharf war zum zweiten Finanzzentrum der britischen Hauptstadt geworden. Wer heute hier seine Büroräume eröffnete, dachte in Millionen und Milliarden. Wer hier wohnte, dachte in 80-Stunden-Wochen.
    Emma Vine wohnte dort seit einem Jahr. Der krude Charme der Isle of Dogs. Die Romantik des Verfalls einerseits, das Versprechen der glänzenden Wolkenkratzerfassaden von Canary Wharf
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