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Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)

Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)

Titel: Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Autoren: Birgit Lautenbach , Johann Ebend
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den Bus verließ, konnte er aufatmen, konnte den Rücken strecken und die Schultern sinken lassen. Er beschloss, sich ein zweites Frühstück zu gönnen. Kaffee, Brötchen, Wurst und Käse. Eine Zeitung. Nur, dass er zum Rauchen nach draußen musste, war neu und eindeutig schlechter als früher.
     
    Es dämmerte schon, als der Zug in den Stralsunder Bahnhof einfuhr. Um die Mittagszeit war das Wetter besser geworden. Aus dem Zugfenster hatte Thiel gesehen, wie die Sonne eine Weile durch den Nebel gedrungen war, was ihm besser gefallen hatte als das frostige Schneegrieseln, in das er jetzt auf dem Weg durch die Stadt geriet. Trotzdem machte er an einer Bude Halt, stellte den Koffer ab und genehmigte sich Bier und Bratwurst.
    Seine Finger waren noch fettig, als er in der Pension Albatros die Anmeldung ausfüllte.
    »Zweiter Stock, erste Tür links. Frühstück von sieben bis zehn. Getränke aus der Minibar gehen extra«, leierte die Hagere an der Rezeption herunter. Sie reichte ihm einen Schlüssel über den Tresen, der so abgewetzt wirkte wie die Möbel in dem Zimmer, das sie Thiel zugewiesen hatte. Er sah sich in der sauberen Schäbigkeit um. Bett, Schrank, Stuhl, ein Tisch neben dem Fenster, durch das er zur Entschädigung den Hafen sehen konnte, wenn er sich weit genug vorbeugte. Ansonsten hatte der Raum den Charme einer Zelle.
    In einer Nische hinter der Tür brummte ein Kühlschrank, der auf seine alten Tage zur Minibar befördert worden war.
    Immerhin, dachte Thiel, das hat’s bisher nicht gegeben. Er nahm eins der albernen Fläschchen. Wodka in Flakongröße für einen, der sich am liebsten bewusstlos saufen würde.
    Das Bett ächzte, als er sich hineinlegte, und noch einmal, als er zehn Minuten später wieder aufstand, weil eine Woge entsetzlicher Trostlosigkeit ihm die Luft nahm. Sie trieb ihn aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, an der Rezeption vorbei, hinaus in die kalte Dunkelheit.
    Er fand sich am Hafen wieder. Stand zwischen Gorch Fock und Lotsenhaus am Rand der Kaimauer, rauchte und grübelte. Darüber, dass seine Idee vom Neuanfang vielleicht doch nur eine Illusion war. Ein
frommer Wunsch, um sich über Wasser zu halten. Sich nicht selbst über den Jordan zu rudern. Zwei lange, tiefe Schnitte rechts und links und dann geräuschlos auf die andere Seite gleiten. Blut fließt langsam, aber stetig, und die Nacht bis zur Lebendkontrolle ist lang.
    Jetzt könnte er springen. Einfach noch einen Schritt tun und sich dem eisigen Wasser überlassen.
    Dazu, entschied Thiel und drehte sich die nächste Zigarette, war er erstens nicht betrunken genug, und zweitens kam es sowieso nicht infrage. Jetzt nicht mehr. Jetzt wollte er wissen, was es auf sich hatte mit der Idee vom zweiten Leben, das beginnen sollte, sobald er einen letzten Blick auf die Kulissen geworfen hatte, in denen sein erstes zu Grunde gegangen war.
     
    Er schlief schlecht. Träumte wüstes Zeug von dunklen Verliesen mit glitschigen Wänden, an denen er abglitt, sobald er sich aufrichten wollte. Als Wasser rauschte, hielt er das beim Aufwachen noch für einen Teil seines Traums. Dann wurde ihm klar, dass Fallrohre durch die Wand hinter seinem Kopf führten.
    Er machte Licht und tastete nach seiner Armbanduhr.
    Zehn nach fünf. Wer in der Küche arbeitet, steht zehn nach fünf auf. Spätestens. Sonst reichte die Zeit nicht. Rauchen, Zähneputzen, waschen, rauchen, essen, wieder rauchen, das dauerte. Nur war das Albatros kein Knast, und Thiel konnte es egal sein, wann der Küchenbetrieb losging. Er drehte sich eine Zigarette,
rauchte und rutschte wieder unter die Decke. Wäre gern noch einmal eingeschlafen und wusste, dass daraus nichts werden würde. Seine Gedanken kreisten sinnlos um immer dasselbe.
    Wie, in drei Teufels Namen, sollte das gehen? Neu anfangen, das Alte hinter sich lassen, nach vorn sehen – und was man ihm sonst noch mit auf den Weg gegeben hatte.
    Er stand auf, pinkelte ausgiebig und ließ nun seinerseits Spülwasser durch die Fallrohre rauschen. Beugte sich über das Waschbecken zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Die blasse Haut mit den großen Poren an Nase und Kinn, die Augen, die Jahr für Jahr farbloser, mehr grau als blau geworden waren. Die blassen Narben auf der Stirn. Und die Falten zwischen Nase und dem schmallippig gewordenen Mund.
    Er war sich selbst fremd geworden. Und allen anderen wohl erst recht.
    Die Bratwurstbude war noch geschlossen. Pappbecher kollerten im eisigen Ostwind über den Marienplatz. Thiel
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