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Blutzeichen

Titel: Blutzeichen
Autoren: Blake Crouch
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Sommertagen schwamm.
     
    Ich war schon immer ein Freund der Einsamkeit gewesen, aber hier an diesem kalten Freitagabend, während ich allein im Schaukelstuhl auf meiner Veranda saß, war sie mir besonders heilig.
    Sterne schienen durch die Baumwipfel.
    Die Sternbilder waren deutlich zu sehen.
    Im Yukon gibt es keine Städte, die den Himmel mit künstlichem Licht besudeln.
    Während ich schaukelte und die Hände tief in den Taschen meiner Jacke vergrub, schloss ich die Augen und versuchte einen dieser surrealen, nostalgischen Anflüge abzuschütteln, in denen man sich über sein bisheriges Leben klar wird, über jede Wahl, die man getroffen und die einen letztlich zu diesem Moment innerer Einkehr geführt hat. Ich war einundvierzig Jahre alt und konnte unmöglich mein Leben Revue passieren lassen, dazu war es zu zerrissen und ausufernd. Also versuchte ich, so sicher und normal wie möglich von Augenblick zu Augenblick zu leben.
    Ich verbannte die tödlichen Gedanken an Walter, an meine Mutter und an all die schrecklichen Dinge, die ich in Orsons Wüste getan hatte, wieder in die Festungen, die ich mühsam für sie errichtet hatte.
    Obwohl ich noch Essen kochen musste und etwas schreiben wollte, entschied ich mich für einen Abendspaziergang. Ich stand auf, band die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und ging die Verandastufen hinab. Ich folgte einem Wildpfad durch den Fichtenhain, die Luft war erfüllt von würzigem Stechkiefernduft, Zweige kratzten an meiner Jacke, kleine Äste knackten unter meinen Stiefeln.
    Es war Ende Oktober – Eis säumte den Rand des Teiches, und der Bogen, den die Sonne am Himmel beschrieb, nahm von Tag zu Tag spürbar ab. Sogar die Zitterpappeln hatten ihre letzten herzförmigen Blätter abgeworfen. Nur die Fichten hatten ihre fahle blaugrüne Farbe behalten, einige von harten Wintern ausgetrocknet und verwittert, andere majestätisch dicht mit Nadeln besetzt, obwohl der nördliche Polarkreis gerade mal vierhundert Meilen entfernt war.
    Ich erreichte die Lichtung. Über den Baumwipfeln auf der anderen Seite ragten die ersten gewaltigen und abweisenden Gipfel der St.-Elias-Berge empor, ihr immerwährender Schnee schimmerte bläulich unter den Sternen. Diese Berge erstreckten sich einhundertfünfzig Meilen durch den südöstlichen Zipfel Alaskas bis hin zum Pazifik. Zu ihnen gehörte auch Kanadas höchster Berg, der weltweit größte nichtpolare Gletscher und ein hundert Meilen langer Eisfluss, der sich von den Gletschergebieten bis hinab zum Meer schlängelte.
    Doch die Berge sind nichts als langweilige, kalte Haufen aufgetürmten Gesteins, wenn das Nordlicht den Himmel erhellt. Ich starrte hinauf in den Kosmos und spürte, wie er mich berührte. Er berührte mich immer.
    Als Südstaatler kannte ich das Nordlicht früher nur von Fotos und hatte stets angenommen, es handele sich um ein Lichtphänomen, das wie ein Stillleben am Himmel stünde. Doch heute Abend war es ein funkelndes Band, das scheinbar von einem Punkt genau hinter den Bergen ausging. Es verlief in einer scharfen Kurve nach oben, eine grüne Mähne flatterte parallel zum Horizont – ein Haarschopf glühender Ionen vierzig Meilen über der Erde. Es schien, als müssten Ätherklänge dieses Himmelsfeuer begleiten, doch der Abend bewahrte sein gewaltiges Schweigen.
    Ich lag tief und gleichmäßig atmend im Gras, starrte in den brennenden Himmel und spürte wieder dieses überwältigende Gefühl in mir, zu Hause zu sein.

4. Kapitel
     
    Horace Boone verließ nach Einbruch der Dunkelheit seinen Wohnwagen in Haines Junction und folgte der einspurigen Piste, die an Andrew Thomas’ Briefkasten vorbei zu dem Ausgangspunkt der Wanderwege in die St.-Elias-Berge führte. Eine Viertelmeile vor Andrews langer, kurviger Zufahrt bog er von der Straße ab und parkte seinen alten Land Cruiser außer Sichtweite im Wald.
    Bis zur Hütte musste man von hier aus zehn Minuten durch den Wald joggen.
    Der hagere, junge Mann lief behände durch die Dunkelheit und wurde erst langsam und vorsichtig, als er die beleuchteten Fenster in der Ferne erblickte.
    Er schlich sich bis zu einem der Fenster auf der Längsseite der Hütte und spähte vorsichtig hinein. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, er kam erst zum zweiten Mal hierher, und es war bei weitem das Aufregendste, was er je an einem Freitagabend gemacht hatte.
    Das Monster stand an der Spüle und wusch das Abendbrotgeschirr ab, vom Kamin her fiel flackerndes Licht auf die Wände. Er trug schwarze
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