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Blutsvermächtnis (German Edition)

Blutsvermächtnis (German Edition)

Titel: Blutsvermächtnis (German Edition)
Autoren: Kathy Felsing
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blassblauen Firmament ab, ließ den Betrachter sich in seiner Majestät verlieren und ihn für ein paar Atemzüge von seiner Ruhe und Kraft tanken. Verbissen heftete Nevaeh ihre Aufmerksamkeit an die Vorstellung der Vulkanspitze.
    Die Einheimischen nannten ihn Lican Antai, ihren heiligen Berg, der Regen und Leben in die spärlich besiedelte Region bringen sollte. Sie wälzte Fakten – dass der Gipfel neben dem höchstgelegenen See der Welt faszinierende Vermächtnisse der Vergangenheit barg; sie rief sich Wünsche in Erinnerung – wie gern sie die Spuren der Inkas bis hinauf zum Krater bewundert hätte. Eine Unterbrechung, um einen Aufstieg zu unternehmen, war nicht möglich gewesen, der Zeitplan war zu knapp, das Budget zu eng. Außerdem war das Gelände von der chilenischen Seite aus vermint, eine Ersteigung – jedenfalls ohne Führung – demnach ausgeschlossen. Wie sehr hatte sie es bedauert, dass sie Catalina, ihrem einstigen Kindermädchen und jahrelang getreuen Haushälterin, die Bitte nicht erfüllen konnte, ein heiß ersehntes Artefakt oder wenigstens einige Stücke sakralen Gesteins vom Herkunftsort ihrer Vorfahren mitzubringen. Nevaeh hatte ihr im Vorfeld zu bedenken gegeben, dass sie keine Zeit finden würde, einen entsprechenden Ausflug einzuplanen, aber die glutäugige Grauhaarige, die ihrem Alter und ihrer Körperfülle zum Trotz das Temperament nicht verloren hatte, nötigte sie mit einem Erguss heißblütiger Überredungskunst auf Spanisch nahezu, zumindest das Versprechen abzugeben, es zu versuchen. Die resolute Inkafrau schaffte es immer wieder, ihr die unmöglichsten Zusagen abzuringen, sodass Nevaeh häufig Mühe hatte, ihr Wort nicht zu brechen. Bislang war es geglückt, oft genug jedoch nur trickreich. Sie grub die Fingernägel in ihre Oberschenkel.
    „Dad. Noah. Catalina.“ Das Wimmern, das über ihre Lippen floss, kroch schleichend zurück in ihr Innerstes und weckte einen Funken Widerstandsgeist.
    „Gottverdammte Chilenen! Verfluchte Drecksäcke!“
    Selbst gesetzt den Fall, dass sie auf der Stelle den Vulkangipfel erklimmen könnte, niemals wäre der Triumph in der Lage, ihr diesen gallebitteren Geschmack von der Zunge spülen. Der Berg hatte seine Heiligkeit eingebüßt, der feuchte Lehmboden unter ihren nackten Beinen brach jeden Zauber, den das Land auf sie ausgeübt hatte. Sogar das verklärte Bild des Joggers in der Wüste spendete keine Versöhnung. Die Erinnerung verschwamm zu Nebel.
    Nevaeh lauschte in die Stille. Der pfeifende Atem des Kerkermeisters, der an seiner millionsten Zigarette ziehen musste, rief Brechreiz hervor. Sie starrte in den schummrig erleuchteten Flur hinter den Gitterstäben. Sekunden zogen sich zu Minuten, Minuten zu zähen Stunden. Hunger und ein Mordsdurst plagten sie und dazu gesellten sich Kopfschmerzen, wie es immer eintrat, sobald sie zu lange nichts aß und trank. Ihr war bewusst, dass dies alles nur geschah, um sie mürbe zu machen. Falscher Film. Definitiv.
    Nach und nach erlahmte ihr Verstand. Die brennende Ungewissheit entfachte aufsteigende Panik, die wie glühende Lava in ihren Adern pulsierte. Sie rollte sich in Fötus-Stellung auf dem Fußboden ein. Die bohrenden Fragen ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Das Kribbeln ihrer Arme wich erlösender Taubheit. Ihre Lippen sprangen auf, trockneten und bildeten raue Risse. Ihre Zunge fühlte sich an wie mit einem Pelz bewachsen. Immer wieder löste sich ein Tropfen Schweiß aus den Brauen und rann ihr in die Augen, die bald so geschwollen waren, dass sie nur noch fähig war, aus Schlitzen in den Flur zu stieren.
    Als der Wächter vor die Gitterstäbe trat, seine Hose öffnete und sich einen runterholte, brachte sie nicht einmal mehr die Kraft auf, sich umzudrehen. Sie schloss die Lider.
    Dann endlich tat sich Dunkelheit auf und versprach, sie zu verschlingen. Aber irgendetwas war nicht richtig. Sie dämmerte in einem dunkelgrauen Nebel, die Finsternis zog sich nicht zusammen und schaltete ihre Gedanken aus, die zähflüssig wie Teer schienen. Zumindest spürte sie keine Schmerzen.
    Gedankenfetzen jagten ihren Geist, riefen verworrene Vorstellungen irrwitziger Experimente an Toten und Mumifizierten hervor, rekapitulierten ihre Arbeit als Paläopathologin im LAPI, dem Los Angeles Paleontologic Institute. Sie durchlebte die monatelangen Vorbereitungen ihrer Expedition bis hin zum Aufbau des Camps vor wenigen Tagen. Selbst in der geschärften Klarheit ihres benommenen Zustands vermochte sie allerdings
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