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Blutschwestern

Blutschwestern

Titel: Blutschwestern
Autoren: Aufbau
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fahl … ihr Blut war jedoch rot wie das der anderen Mädchen, und
     es würde Muruk vorzüglich munden.
    Nona sah sich ein letztes Mal in ihrem Raum um, der für ein viel zu kurzes Leben ihr Heim gewesen war; sie betrachtete das
     schmale Bett mit den weichen Schafsfellen, schaute hinüber zur Fensteröffnung, von wo sie auf die Tempelstadt von Engil schauen
     konnte, und schließlich auf den kleinen Schrein in der Ecke, in welchem die Statuette von Sala mit offenen Armen und einem
     Lächeln im Gesicht zu ihr herüberschaute. Ein letztes Mal kniete Nona vor der Göttin nieder und sprach ihr Gebet.
Lichtgöttin Sala … bitte verlasse mich nicht an diesem Tag. Der Hohepriester sagt, dass mir Ehre widerfährt, doch ich bitte
     dich … hilf mir, so wie du einst deinen Töchtern geholfen hast, als Muruk sie töten lassen wollte. Ich fürchte mich, in sein
     dunkles Reich zu gehen, viel lieber würde ich leben! Auch du bist dereinst aus seinem Reich geflohen, da du die Düsternis
     nicht ertragen konntest.
    Nona lief rot an, denn sie wusste, dass ihr Gebet unverschämt war. Schon immer waren junge Mädchen zu Muruk gegangen, und
     es würde stets so sein. Was kümmerte die Göttin schon die unerhörte |19| Bitte eines jungen unscheinbaren Mädchens! Die Götter scherte das Schicksal der Menschen nicht, denn es war ein Menschenkönig
     gewesen, der sein Volk ins Unglück gestürzt hatte. Nona erhob sich und wandte sich entmutigt ab. Sie würde nicht weinen, wenn
     es soweit wäre; keine von den Blutschwestern tat das. Sie würden allesamt zumindest für die Augen der Engilianer stolz und
     aufrecht zu Muruk gehen, denn genau darauf waren sie vorbereitet worden.
    Ein letztes Mal sah sie sich in ihrem kleinen Reich um, dann verließ sie es für immer und eilte über die Flure des luftigen
     Hauses. Das Haus der Schwesternschaft war das einzige Heim, das Nona und die anderen Mädchen je kennengelernt hatten. Meist
     kamen die Blutschwestern ohnehin nur zum Schlafen in ihre Räume, die Tage waren angefüllt mit Waffenübungen oder Tempeldienst
     für die Götter. Und obwohl die Räume und Flure des Schwesternhauses wenig Zierrat und Wohnlichkeit aufwiesen, tat ihr nun
     jeder Schritt im Herzen weh, der sie für immer von allem wegführte, was ihr vertraut war. Hinter den nebeneinander liegenden
     Türen ihrer Blutschwestern vernahm sie keinen Laut, die anderen hatten ihre Räume bereits verlassen. Wahrscheinlich waren
     sie in der großen Halle neben dem Haus der Blutschwestern, um die Segnungen der Priester und Priesterinnen entgegenzunehmen.
     Wie so oft würde Nona sich verspäten und mit missbilligenden Blicken von Liandra, Salas Hohepriesterin, bedacht werden, doch
     heute wäre es ohnehin das letzte Mal, dass sie zu spät kam. Deshalb beschloss sie, sich nicht zu beeilen. Viel zu kostbar
     erschienen ihr die Augenblicke, in denen sie noch den frischen Duft des Taues und der Blüten atmen konnte. In Engil war es
     meistens warm, und die Bäume und Blumen trugen den gesamten Jahresumlauf Blätter und Blüten. Nona hatte niemals in ihrem Leben
     frieren müssen, doch heute fror sie, obwohl der Morgen angenehm war. Die Angst vor dem, was kommen würde, verstärkte die Übelkeit
     in dem Maße, dass Nona meinte, sich übergeben zu müssen. Ihre Hände legten sich in einer |20| Geste der Verzweiflung auf ihren Bauch.
Nicht daran denken! Lass die Angst dir nicht die letzten Stunden deines Lebens verderben!
Nona atmete tief durch und zwang sich, die Vögel und Blumen zu betrachten, alle jene schönen Dinge, die für sie unerreichbar
     sein würden, wenn sie erst in Muruks dunklem Reich wäre. An der großen Tür des Schwesternhauses spähte sie nach Wachen, doch
     es waren keine eingeteilt worden. Früher, so hatte ihnen die Hohepriesterin Salas erzählt, war das Schwesternhaus stets bewacht
     worden, weil viele der Schwestern versucht hatten, ihrem Schicksal zu entfliehen. Doch dies war lange her, seit Jahrhunderten
     hatten sich die Menschen nun an das Werden und Vergehen gewöhnt. Es war ein unabänderlicher Teil des Lebens, niemand von den
     Lebenden kannte es anders und hätte sich dagegen aufgelehnt. Trotzdem wurden an den Opfertagen manchmal noch Wachen aufgestellt,
     denn Angst konnte selbst eine mutige und stolze Blutschwester auf dumme Gedanken bringen. Doch heute, an jenem besonders wichtigen
     Tag, war der Hohepriester Muruks wohl zu beschäftigt gewesen, um sich über die Einteilung von Wachen Gedanken zu machen;
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