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Blutrot wie die Wahrheit

Blutrot wie die Wahrheit

Titel: Blutrot wie die Wahrheit
Autoren: P.B. RYAN
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– gar kein Vergleich zu ihrem alten Leben, in dem sie „immer nur an der Wand entlanggehuscht war und versucht hatte, nicht aufzufallen.“
    All das würde Nell gewiss noch weitaus bitterer gestimmt haben, wäre Fiona Gannon nicht in großen Lettern auf der Titelseite des Daily Advertiser, des Massachusetts Spy und allen anderen Zeitungen Bostons von jeglicher Schuld freigesprochen worden. Aber wahrscheinlich hatte die Angelegenheit es nur deshalb auf die Titelseite geschafft, weil eine viel bessere, größere Geschichte dahintersteckte – nämlich die des Abstiegs der hochwohlgeborenen Miss Vera Pratt zur Mörderin und Wahnsinnigen. Fees öffentliche Freisprechung von Schuld bringe sie ihm zwar nicht wieder zurück, hatte denn auch Brady gemeint, aber es lindere den Schmerz doch ein wenig.
    Durch Forest Hills zu schlendern, war, als würde man über das weitläufige Anwesen eines englischen Landsitzes spazieren. Die leicht hügeligen Rasenflächen wurden hie und da von Gesteinsklüften und kleinen Waldungen durchbrochen; auf einem spiegelglatten See glitten still zwei Schwäne dahin. Über ihnen kreiste ein Habicht; Vögel zwitscherten. Gracie, die mit den Blumen in der Hand über den Rasen tanzte, sah aus wie ein Elfenkind, das den Sommer feierte.
    â€žDas müsste es sein.“ Will zeigte auf die Spitzen eines weißen Flügelpaares, die eben hinter der nächsten Anhöhe sichtbar wurden.
    Den Blick auf die weißen Flügel gerichtet, blieb er stehen und strich dabei gedankenverloren über die Brusttasche seines Fracks – eine altvertraute, wenngleich in letzter Zeit doch eher selten gewordene Geste.
    â€žTu dir keinen Zwang an“, meinte Nell.
    Er lächelte seinen stillen Dank, holte eine Dose Salem Aleikums hervor und zündete sich eine an. Es war seine erste Zigarette an diesem Tag – vielleicht die erste gar seit einigen Tagen. Ein und dieselbe Dose hielt nun bereits seit Wochen vor.
    â€žLiegt es an Dr. Fosters Worten, dass du weniger rauchst?“, hatte sie ihn gefragt, sowie sie merkte, dass er nur noch in besonders aufreibenden Situationen zur Zigarette griff.
    â€žJa“, hatte er lächelnd erwidert. Und dieses Lächeln hatte sie ein wenig nachdenklich gestimmt. Hatten Isaac Fosters Vorbehalte gegen das Rauchen sich doch nicht allein auf die gesundheitlichen Gefahren beschränkt. Keine Dame lässt sich gern von einem Mann küssen, dessen Mund wie eine schlecht ausgekehrte Herdstelle schmeckt.
    Vielleicht war es diese unschöne Begleiterscheinung des Tabakkonsums, die Emily dazu veranlasst hatte, mit dem Rauchen aufzuhören, seit Isaac Foster sie kurz vor ihrer geplanten Abreise nach Liverpool mit ernsten Absichten zu hofieren begonnen hatte. Laut Emily hatte er sie eindringlich gebeten, nicht zu fahren, und hatte ihr versprochen, sie keineswegs versklaven zu wollen, sich ihr Vermögen nicht anzueignen oder sie ihrer Rechte zu berauben. Er wolle doch nichts weiter, als sie lieben und ihr geben, was immer sie sich wünsche, ob dies nun Reisen, die Möglichkeit zu Schreiben oder Kinder seien – oder alles drei. Das Angebot schien unwiderstehlich und verfehlte seine Wirkung nicht; einen Tag darauf ließ Emily sich ihre Schiffsfahrkarte bei Cunard auszahlen.
    Während sie gemächlich die leichte Anhöhe hinauf zu Virginia Kimballs letzter Ruhestätte geschlendert waren, hatte Will seine Zigarette aufgeraucht. Das Grabmal, entworfen von Max Thurston und von einem verdienten Bostoner Bildhauer in makellos weißen Marmor geschlagen, zeigte einen überlebensgroßen, auf einem Sockel sich erhebenden Engel. Der Sockel ragte hoch und imposant auf, mit seltsam verspielt anmutenden Verzierungen am oberen Abschluss und einer Inschrift en face:
    VIRGINIA EVELYN KIMBALL
    am 1. Juni 1869 im Alter von 48 Jahren
    aus diesem Leben geschieden
    â€¦ und aus der schönen unbefleckten Hülle
    soll’n Veilchen wachsen
    Und tatsächlich wuchsen Veilchen auf dem Grab, gar eine ganze Wiese von Veilchen – gewiss auch das Werk von Max Thurston.
    Die majestätische Engelsgestalt, in ein Gewand gehüllt, das jenem ähnelte, in welchem Virginia Kimball zu Grabe getragen worden war, machte einen anmutigen Knicks, das Haar wallte in weichen Wellen, die Arme waren weit ausgestreckt, um die prächtigen Flügel zur Geltung kommen zu lassen. Was Nell zunächst für rein ornamentale
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