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Blutmusik

Blutmusik

Titel: Blutmusik
Autoren: Greg Bear
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konnte es fühlen
    … am letzten Abend der Welt.
    »Hu«, sagte sie, breitete das lange Kleid aus und setzte
sich auf einen der Stühle. Sie wischte sich die Augen. Das war
plötzlich über sie gekommen, unerwartet. Sie war einfach
verrückt. Und dumm, wie immer.
    Aber nicht ängstlich.
    Annehmen.
    Die Schranktür knarrte, und sie wandte sich um, erwartete
beinahe, Laurie hinter den Kleidern zu sehen. (Die Wohnung hatte ihr
sofort gefallen, wegen des Kleiderschranks.)
    Im Innern des Kleiderschranks schneite es. Lichtflocken sanken
über die Kleider herab. Sie fröstelte und stand langsam
auf, strich das Kleid glatt und ging mit zögernden Schritten auf
den Schrank zu. Konfettilicht spielte über das Innere, die
hölzerne Rückwand, die Kleider, sogar die Bügel.
    Sie zog die Schranktür weiter auf und sah sich selbst im
Spiegel. Hinter dem Glas war sie umringt von glänzenden
Lichtblasen, wie Millionen von Kohlensäurebläschen in einem
Glasbottich mit Bier.
    Suzy beugte sich näher zum Spiegel. Das Gesicht, das ihr dort
entgegenblickte, war nicht ihres, nicht genau. Sie berührte ihre
Lippen, dann streckte sie die Hand aus und legte die Fingerspitzen an
das kalte, glasige Bild.
    Kälte und Glätte lösten sich auf. Die Fingerspitzen
wurden warm. Suzy wich zurück, bis sie gegen den Stuhl
stieß.
    Das Abbild trat aus dem Spiegel und lächelte ihr zu.
    Nicht bloß sie selbst. Auch ihre Mutter. Ihre
Großmutter. Und vielleicht die Urgroßmutter, und die
Ururgroßmutter. Hauptsächlich Suzy, aber auch sie. Alle in
einer. Sie lächelten ihr zu.
    Suzy langte hinter sich, den Reißverschluß ihres
Kleides höherzuziehen. Das Abbild breitete die Arme aus, und es
war hauptsächlich Suzys Mutter, und Suzy lief auf sie zu und
barg ihr Gesicht an der Mutter Schulter, am samtgrünen Stoff des
Kleides. Sie weinte nicht.
    »Den Schrank?« sagte sie, die Stimme gedämpft durch
den Stoff an ihrem Mund.
    Das Abbild – jetzt eher Suzy ähnlich –
schüttelte den Kopf und nahm Suzy bei der Hand. Da fiel es Suzy
ein. Als die umgewandelte Stadt verschwunden war und sie in der
Einöde zurückgelassen hatte – nachdem sie sich
geweigert hatte, mit Cary und all den anderen zu gehen –, hatte
sie sich verdoppelt gefühlt.
    Sie hatten sie kopiert.
    Hatten die Kopie mit sich genommen, für alle Fälle.
    Und nun hatten sie sie zurückgebracht, um die
ursprüngliche Suzy zu treffen. Die Kopie hatte sich
verändert, und zum Vorteil. Sie war ganz Suzy und ganz ihre
Mutter, und alle anderen, individuell aber zusammen vereint.
    Das Abbild führte Suzy zur Rückwand der Wohnung,
gegenüber dem Fenster. Sie stiegen auf das Bett und standen und
lächelten einander an.
    Bereit? fragte das Abbild stumm.
    Suzy blickte über die Schulter zurück zum summenden
Schnee, dann fühlte sie den warmen, festen Griff der Hand. Wie
viele Handschläge von Amerika?
    Wieso, überhaupt keinen Handschlag.
    »Werden wir dort, wohin wir gehen, so dumm sein wie
hier?« fragte Suzy.
    Nein, antwortete das Abbild stumm, nun ganz Suzy.
    Suzy konnte es in ihren Augen sehen. Cary hatte recht gehabt. Sie
fixierten Leute.
    »Gut. Ich habe es wirklich satt, schwer von Begriff zu
sein.«
    Das Abbild hob die Hand, und gemeinsam rissen sie die Tapete
herunter. Es war ganz einfach. Das Papier ließ sich
mühelos abziehen, und die Wand ging einfach auf.
    Jenseits der Wand war Schnee, aber nicht wie der Schnee vor dem
Fenster. Dieser Schnee war weitaus schöner.
    Für jeden lebenden Menschen mußte es eine Million
Schneeflocken geben. Alle tanzten zusammen.
    »Wir werden nicht den Schrank brauchen?« fragte
Suzy.
    Der kommt nicht mit, wohin wir gehen, sagte das Abbild. Zusammen
kauerten sie nieder, fertigmachen, bereithalten -
    Und sie sprangen vom Bett durch die Öffnung in der Wand.
    Das Gebäude erzitterte, als wäre irgendwo eine schwere
Tür zugefallen. In der Nacht tanzten die leuchtenden
Schneeflocken ihren wirbelnden Tanz. Die schwarzen Wolken
darüber wurden durchsichtig, und Suzy sah alle Richtungen
gleichzeitig. Es war eine köstliche und beängstigende Art
zu sehen.
    Kurz vor Tagesanbruch ließ der Sturm nach. Die Erde lag
still, als die Hemisphäre der Dunkelheit von ihr wich.
    Der Tag begann zögernd, warf einen breiten orangegrauen
Schimmer über den wellenlosen Ozean und das stille Land.
Konzentrische Lichtkreise flohen von der trüben Sonne.
    Suzy konnte weit hinausblicken. (Sie war so winzig, und doch
konnte sie überallhin sehen, sehr große Dinge sehen!)
    Die
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