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Blumenfresser

Blumenfresser

Titel: Blumenfresser
Autoren: László Darvasi
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überraschte.
    Sie hat lange aufs Wasser hinausgesehen, sagte Klara.
    Weil sie nicht bis zum Himmel sehen kann! Auch die Erde interessiert sie nicht. Kein Wunder, dass sie den Blick aufs Wasser richtet! Und immer nur an eines denkt.
    An was hat sie gedacht, Papa?
    Dass in diesem Wasser jemand umkommen wird.
    Das heißt, jemand wird darin ertrinken, fragte das Mädchen schaudernd.
    So ist es, seine Lunge wird sich mit sandigem Wasser füllen!
    Und warum?
    Weil dein Mütterchen es so will!
    Das stimmt nicht, schluchzte das Mädchen.
    Der Vater lachte, ach Herzblättchen, ich habe nur Spaß gemacht, mir nur was eingebildet, deswegen darfst du nicht weinen!
    Pelsőczy sprach mit erhobenem Finger, wie ein Lehrer.
    Vor dreihundert Jahren zog ein französischer Ritter durch die einzige, staubige Straße dieses Flickwerks, das sich Stadt nannte, und ihm graute vor den Bergen aus Dreck. Hunde hechelten neben ihm her. Noch vor wenigen Jahren hat auch ein Reisender aus Siebenbürgen Szeged für hässlich gehalten, nicht ein einziges ansehnliches Gebäude habe er hier gefunden. Er hat unrecht, denn er lässt die Theiß unerwähnt. Auch ein Engländer zeichnet kein besseres Bild. Seine Reisebeschreibung ist anschaulich, sie lässt sogar den Taumel der Hoffnungslosigkeit zu wahrer Dichtung reifen. Was ist das, wahre Dichtung?, fragte Klara.
    Pelsőczy leckte sich die Oberlippe und dachte nach, dann sagte er nur: Was größeren Schmerz verursacht als das, was wirklich ist!
    Das Mädchen schloss die Augen, was schmerzt mehr als der Feuerhund, der dir die Finger leckt, mehr als Stacheln, die Sohlen durchlöchern, mehr als Wespenstiche?
    Der Engländer begibt sich von Tokaj in die ungarische Tiefebene, am ersten Tag plagen ihn Zahnschmerzen, doch bald ist die entzündete Wurzel vergessen. In dieser Wüstenei mit ihrer Üppigkeit des Nichts und dem blendenden Weiß der salzigen Felder taucht schließlich die Stadt vor seinen Augen auf. Blaue Türme tanzen im vibrierenden Himmel! Neben der Straße, die weiße Staubtrichter absondert, zeigen Wiesen ihr Gelb, auf feuchten Erhebungen putzen Silberreiher und Wildgänse ihr Gefieder, und ein wenig höher blökt ein Lamm im verdorrten Gras. Der Engländer betrachtet das arme Geschöpf mit den schrecklichen Wunden auf dem Rücken, Bisse vielleicht von tollwütigen Hunden. Doch nicht die Hunde, die Wunden sind wichtig. Und der Zahn tut dem Engländer wieder weh.
    Dieses Lamm gefällt mir, sagt Pelsőczy und reibt sich das Kinn.
    Mir auch, nickt Klara.
    Pelsőczy erhob die Stimme, als sei er jetzt beim wichtigsten Punkt seiner Ausführungen angekommen.
    Der Fluss dringt seit Jahrhunderten mit unterirdischen Läufen in die Stadt ein, er umspült die Fundamente und Lehmmauern der Häuser, sein Glitzern droht am Rand der Gärten, er lässt Zäune verfaulen, und zwischen den Straßen legt er Gräben an. Ein Teppich von Fadenalgen überzieht sie, wenn sie austrocknen, und im Bett des toten Wasserlaufs finden Kinder Muscheln und Fischknochen. Doch eines Morgens sprudelt hier kaltes Quellwasser, davon kann man trinken! Stinkende Pfützen vermengen sich mit der neuen Quelle, das Alte streitet mit dem Heutigen und söhnt sich mit ihm aus! In dem, was gestern war, ist das, was morgen geschieht, schon zu sehen! Verhält sich denn die Theiß nicht so wie die auf und ab wogende Zeit? Die Kanäle von Venedig und Amsterdam winden sich anstelle von Straßen, doch die Wasserläufe, die Szeged durchziehen, gleichen miteinander verwobenen menschlichen Schicksalen!
    Wessen Geschichte plätschert hier, und wessen Leben vertrocknet dort und wird zu einer unkrautbewachsenen Ufermauer?
    Meines, meines!, rief das Mädchen.
    Wessen Schicksal ist in diesem kleinen Schimmer zu erkennen, und wessen Schicksal wurde zu Sand, zu trockener Erde?
    Meines, ach, meines!
    Warum ist es denn so schlimm, dass nie ganz gesagt werden kann, was mit uns passiert, weil fortwährend das Schicksal eines anderen Menschen in unser eigenes sickert?!
    Der Vater hauchte ihr seinen Alkoholatem ins Gesicht, doch seine Stimme klang leise und nüchtern.
    Jede Stadt hat ein himmlisches Ebenbild, das aus der Welt der Ideen in die Schattenwelt der Wirklichkeit hinüberleuchtet. Die Stadt gleicht dem Körper des Menschen, sie ist ähnlichorganisiert und funktioniert ähnlich, zum Beispiel weiß unser Herr Schütz sehr genau, was für ein Flickwerk der menschliche Körper ist. Er trotzt einer absurden Zahl von Schicksalsschlägen und bricht von einem
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