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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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verliebt? Bisher hatte es keinerlei Anzeichen dafür gegeben. Aber vor allem: Was bezweckte sie damit, ihn außer Gefecht zu setzen? Sie konnte unmöglich so dumm sein zu glauben, dass er alles vergessen haben würde, sobald er wieder Herr seiner Sinne war. Ihm brach der Schweiß aus. Was, wenn es nicht nur K.o.- Tropfen waren? Was, wenn sie ihm ein weiteres Gift hineingetan hatte? Doch warum sollte sie das tun? Er war stets ein korrekter Vorgesetzter gewesen, hatte sich ihr gegenüber nicht das Geringste zuschulden kommen lassen.
    Er prüfte, ob er die Beine bewegen konnte. Ja, zwar nur mühsam, aber sie schien ihn nicht belogen zu haben. Die Dosis, die sie ihm verabreicht hatte, konnte nicht besonders hoch gewesen sein. Ihm war schwindelig und übel, aber längst nicht so, dass er ohnmächtig zu werden drohte.
    »Ich denke, es wird langsam Zeit.« Kurz verschwand sie aus seinem Blickfeld, um im nächsten Moment wieder vor seinem Gesicht aufzutauchen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
    »Ich habe Sie immer aufrichtig bewundert, wissen Sie das?«
    Langsam zog er den rechten Fuß ein wenig heran. Erleichterung durchflutete ihn, als ihm bewusst wurde, allmählich wieder Herr über seine Glieder zu werden. Sofort hielt er in der Bewegung inne, um sie nicht darauf aufmerksam zu machen. Jetzt hieß es abzuwarten, geduldig zu sein. Er musste den richtigen Moment erwischen.
    Sie streichelte ihm zärtlich über die Wange, sah ihn mitleidig an. Dann ging sie um den Sessel herum, stellte sich hinter ihn. Der jähe, stechende Schmerz auf seiner Kopfhaut ließ seinen Atem stocken. Ein kurzer, gellender Schrei entfuhr seinen Lippen.
    »Seht, seht«, machte sie und trat wieder in sein Blickfeld. »Ich weiß, eine Injektion in den Kopf soll in der Tat schmerzhaft sein. Doch ich versichere Ihnen, gäbe es einen anderen Punkt am Körper, wo niemandem die Einstichstelle auffallen würde, ich hätte ihn gewählt. Aber nun ja, so ein kleiner Pikser. Bestimmt tut es schon nicht mehr weh.«
    Professor Perl schluckte schwer, als er den Pen in ihrer Hand sah. »Insulin?«, flüsterte er kaum hörbar.
    Sie nickte nachdenklich. »Ja, Insulin schien mir angebracht.«
    Wieder schluckte er, versuchte verzweifelt, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. Er brauchte sofort einen Arzt. Wenn der Pen wirklich Insulin enthielt, und daran zweifelte er keinen Augenblick, würden die Symptome bei seiner Herzerkrankung nicht lange auf sich warten lassen. Schweißausbruch, Atemstörungen, Herzrasen - und schließlich der Tod.
    »Frau Berger, bitte! Bitte holen Sie Dr. Hermanns.« Es kostete ihn eine unglaubliche Kraftanstrengung, diese Worte hervorzubringen.
    Sie setzte sich wieder auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und betrachtete ihn ruhig. »Ich bedaure sehr, doch diesen Wunsch kann ich Ihnen leider nicht erfüllen.«
    Sein Herz raste. War es die Angst oder begann das Insulin bereits zu wirken?
    Sie sah auf die Uhr. »Wenn man den einschlägigen Berichten und Erzählungen glauben darf, haben wir etwa 20 Minuten, bis Ihr Herz versagt. Je nachdem, wie stark Sie sich dagegen wehren, dauert es maximal noch weitere zehn Minuten, bis Sie es endgültig überstanden haben.« Sie sah versonnen an die Decke. »Natürlich steht es mir nicht zu, Ihnen Ratschläge zu erteilen, doch würde ich mich an Ihrer Stelle einfach entspannen und meinem Schicksal überlassen, anstatt den Kampf unnötig in die Länge zu ziehen. Fünf Minuten mehr oder weniger zu leben, darauf kommt es auch nicht mehr an. Aber fünf Minuten lang Todesqualen zu ertragen ...« Sie streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus und bewegte sie auf und ab, als wöge sie eine Entscheidung ab. »Ich persönlich würde einen möglichst kurzen Todeskampf vorziehen. Aber es ist Ihre Entscheidung.«
    Verzweifelt blickte er sich um, prüfte, inwieweit seine Glieder ihm noch gehorchten. Er musste hier raus, Hilfe holen, schreien. Er setzte an, doch mehr als ein leiser Hilferuf, kaum mehr als ein geflüstertes Stammeln, kam nicht über seine Lippen.
    »Aber ja, lassen Sie ruhig Ihre Wut heraus, wenn Sie diese Erde verlassen. Das befreit.« Wieder dieses selbstgefällige Grinsen in ihrem Gesicht.
    Er brachte gerade noch so viel Kraft auf, um die Hand zur Faust zu ballen.
    »Ich denke, wir sind jetzt an einem Punkt, wo ich Ihnen sagen kann, welch große Hilfe Sie mit Ihrem Tod leisten werden.«
    Sie stand vom Stuhl auf und verließ beschwingten Schrittes den Raum. Sein Herz schlug schneller.
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