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Bitter im Abgang

Bitter im Abgang

Titel: Bitter im Abgang
Autoren: Aldo Cazzullo
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Partisanen der Langhe könnten mit vorgehaltenem Maschinengewehr in sein Schlafzimmer eindringen, um die Herausgabe sämtlicher Goldschätze zu verlangen, die in den Kirchen Italiens versteckt waren.
    Bevor er nach Alba versetzt wurde, war der Bischof im Vatikan tätig gewesen und hatte dort eng mitPacelli zusammengearbeitet. Daher kannte er den jetzigen Papst gut, und sein Schweigen zu den Taten der Nationalsozialisten hatte ihn nicht weiter verwundert. Der Papst war kein Heiliger. Er war Diplomat. Offene Kritik hätte ohnehin nichts genützt, im Gegenteil. Auf jeden Fall erhielt man auch in Alba Anweisung, die Türen von Klöstern, Kirchen, Pfarrhäusern zu öffnen, um den Verfolgten Unterschlupf zu gewähren. Und zu schweigen. Allerdings hätte der Bischof diese Anweisung nicht gebraucht – aufgrund seiner Heiligkeit war es für ihn selbstverständlich, Juden und Partisanen aufzunehmen, und seine Schwäche legte ihm nahe zu schweigen. Der einzige Unterschied zwischen ihm und dem Papst war, dass Pius XII. Deutschland nur aus Friedenszeiten kannte und bis zuletzt die Schwarzen den Roten vorzog. Der Bischof hingegen hatte die Deutschen im Krieg erlebt, er wusste, wozu sie fähig waren, er war vor niedergebrannten Häusern auf die Knie gesunken, hatte ohne Erfolg sein Leben für das der Geiseln angeboten, hatte die Körper der Ermordeten gesegnet, kümmerliche Überreste von Männern und Frauen, Fleisch ohne Augen, Hände ohne Fingernägel, Spuren trostlosen Todeskampfes, kaltblütigen Tötens ohne Erbarmen, von Leben, die einfach ausgerissen wurden, wie man Zähne zieht. Viele Partisanen waren zwar Gottlose, aber immerhin Kinder der Langhe. Die Nazis tratenwie heidnische Götter auf, die nach einem Blutopfer verlangten. Das konnte der Papst, abgeschirmt hinter den Mauern des Vatikans, nicht wissen. Er schon. Niemand konnte schlimmer sein als die Nazis. Vielleicht die echten Kommunisten, die Russen. Aber die waren Tausende von Kilometern entfernt. Jetzt standen andere Kommunisten vor der Tür, unsere Kommunisten. Entschlossene Leute. Durch den Krieg verbittert, durch Entbehrungen ausgemergelt, mit loderndem Hass. Gekommen, um ihren Anteil zu fordern.
    Solche und andere schreckliche Gedanken gingen dem Bischof durch den Kopf, während er betete. Beten entspannte ihn, und es half ihm beim Nachdenken. So lange, bis seine gemurmelten Vaterunser von entschlossenen Schritten unterbrochen wurden, die der Bischof gut kannte. Hier kam ein Priester von ganz anderem Schlag. Einer von denen, die zu Kriegszeiten in Kleidern schliefen.
    «Ich habe Sie schon erwartet. Danke, dass Sie gekommen sind, Pater Bergoglio.»

9

San Benedetto Belbo,
Montag, 18. November 1963
    Da war sie. Virginia. Mit kohlrabenschwarzem Haar. Dem langen, geraden Hals. Den Lachfältchen. Dem entschlossenen Blick einer Frau, der man Unrecht getan hat und die fortan nichts und niemandem mehr Macht über ihr Leben einräumen wird. Alles an ihr war ihm vertraut, selbst nach so vielen Jahren. Auch der herzförmige Mund.
    «Es ist sicher schwer, das Herz auf den Lippen zu tragen. Überall kann es anstoßen, sich an jedem Dornenzweig im Wald zerkratzen, sich beim ersten Frost verkühlen. Sei vorsichtig, wenn du mit deinem Herzen auf den Lippen unterwegs bist.»
    Seither hatte Alberto nie wieder einen Liebesbrief geschrieben. In der Stadt, als der Frieden kam, hatte er festgestellt, dass viele Frauen anderes brauchten. Zärtlichkeit natürlich, süße Worte, aber auch Geld, Macht, Sicherheit, Sex; das war für sie Liebe. Aber Virginia mochte seine Liebesbriefe sehr.
    «Denkst du immer noch an sie?», fragte Amilcare Braida, ohne Luft zu holen, wobei er mit dem Blick auf das Foto deutete.
    «Jeden Tag. Ein Leben lang habe ich jeden Tag in den Augen einer anderen nach dem Blick der Frau gesucht, die ich geliebt habe. Und lange habe ich ihn auch gefunden.»
    «Hast du Moresco je verziehen?»
    «Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob er sie hätte retten können. Was glaubst du, Johnny?»
    «Keine Ahnung. Ich weiß, dass auch er sie geliebt hat. Und bestimmt hat auch er für den Rest seines Lebens nach ihr gesucht. Du hast ihre beste Freundin geheiratet, er ihre Schwester.»
    Alberto zuckte zusammen und sagte leicht gereizt: «Aber du hast mich doch nicht herbestellt, um mir ein Foto von Virginia zu zeigen? Bestimmt nicht. Fotos von ihr habe ich selbst, sogar bessere. Ich dachte, du wolltest mit mir über Geld sprechen. Wolltest du dich nicht endlich aufraffen, die
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