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Bitter im Abgang

Bitter im Abgang

Titel: Bitter im Abgang
Autoren: Aldo Cazzullo
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Frachtpapiere nach Amerika in Shakespeare-Englisch verfasste.
    Dann auf einmal sah er es. Das Foto, das wusste er genau, hatte nie dort gestanden, Johnny hatte es wohl extra für ihn aufgestellt. Sie war wunderschön. Ihr Gesicht hatte er schon lange nicht mehr angeschaut, denn in seinen Träumen tauchte sie schon lange nicht mehr auf, aber sie löste immer noch dasselbe Gefühl in ihm aus; fast hatte er vergessen, wie schön sie war. Er blickte in die hellen Augen und auf das herzförmige Lächeln. Und er begann zu weinen, wie immer.

7

Alba,
Sonntag, 25. April 2011, 12.30 Uhr
    In der Trattoria war es voll, wie immer am Sonntagmittag, und man brauchte das geschulte Ohr eines Polizisten, um das Telefongespräch des Wirts mitzuhören.
    An dem Tisch in der Ecke waren der Notar und der Apotheker noch bei den Antipasti. Das kräftige Aroma der Bagna cauda roch man bis zur Via Maestra. An dem runden Tisch vor der Küche tafelte der Commendatore De Tomasi mit der gesamten Familie, einschließlich der fast hundertjährigen Schwiegermutter. An dem langen Tisch neben der Toilette saß eine Gruppe, bestimmt Deutsche oder Schweizer, das sah man an der üppigen Menge schwarzer Trüffel, die sie sich selbst auf das Vitello tonnato häufen ließen. Außerdem hatten sie einen Barolo von Moresco bestellt.
    «Wenn sämtliche ‹Trüffel aus Alba› wirklich aus Alba wären, müssten die Trüffel hier auf den Bäumenwachsen wie Kirschen», sagte der Apotheker lachend, der aus einer humorvollen Familie stammte: Maler, Erfinder, Künstler eben; genial, aber auch ein bisschen schlitzohrig. Der Notar lächelte frostig, und erst da fiel dem Apotheker ein, dass dessen Vater mit Trüffeln handelte. Er versuchte es wiedergutzumachen, indem er verzückt die Augen schloss: «Wie das duftet. Riechst du das? Man kommt sich vor wie unter der Erde.»
    Der Wirt hingegen war der uneheliche Sohn des reichsten Gastronomen der Gegend, der sich nicht zurückhalten konnte und jede neue Kellnerin ausprobieren musste. Wurde das Kind dann volljährig, richtete er ihm eine Trattoria ein.
    Der Wirt war gerade dabei, den Ausländern Trüffel auf die Teller zu hobeln, als das Telefon klingelte. Die Neuigkeit, die man ihm mitteilte, machte ihn nicht gerade froh, warf ihn aber auch nicht aus der Bahn. Er machte eher den Eindruck, als hätte er damit gerechnet.
    «Das Leben ist lang, die Zeit ein Gentleman», murmelte er. Dann beugte er sich zu dem Apotheker hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: «Sie haben Moresco umgebracht.»
    Kurz spielte der Inspektor mit dem Gedanken, der Sache sofort nachzugehen und aus dem Wirt herauszuholen, was er wusste. Dann sagte er sich jedoch,dass es sich nicht lohnte, dafür Schnecken und Fonduta kalt werden zu lassen. Es stimmte nicht, dass Trüffel am besten zu Spiegelei passten. Denn die Eier waren immer entweder zu lang oder zu kurz gebraten. Schwammen im Öl, schlimmstenfalls in Trüffelöl. Das Eigelb schmeckte zu kräftig, das Eiweiß nach nichts. Da machte sich eine Fonduta doch wesentlich besser. Erst in dieser Kombination entfaltete der hauchdünn gehobelte Trüffel ein derart intensives Aroma, dass man sich wirklich wie unter der Erde vorkam. Und dazu war auch ein Barbera von Tibaldi, so wie der, den er sich von seinem Gehalt als Staatsbediensteter erlauben konnte, durchaus akzeptabel.
    Der Inspektor goss sich noch einen Schluck ein, dazu die letzte Schnecke. Er liebte den Geschmack nach gemeiner Auster, nach Erdauster. Dann bestellte er die Rechnung. Er stellte fest, dass er inzwischen als Einheimischer durchging – man brachte ihm einen karierten Zettel, auf dem mit Bleistift der Rabatt stand. Steuerhinterziehung, und das mit Beihilfe eines Polizeiinspektors. In Neapel hätten sie es nicht besser gekonnt. Er zahlte, ohne Trinkgeld, und rief im Polizeipräsidium an, um herauszufinden, wo man Domenico Moresco ermordet hatte.

8

Alba,
Donnerstag, 19. April 1945, 2.40 Uhr
    Als Don Tadini mit dem Fahrrad am Amtssitz des Bischofs ankam, wussten man dort schon Bescheid und erwartete ihn.
    Der Bischof war im Nachthemd. Er wirkte noch durchsichtiger als gewöhnlich. Weiß wie Milch. Die glänzende Haut spannte über den Knochen wie bei bestimmten Christusfiguren aus Zentralspanien, Gottesfiguren mit Menschenhaut überzogen.
    Der Bischof stand im Ruf eines Heiligen, aber auch eines Schwächlings. Nicht zu Unrecht, das wusste er selbst. Und in dieser Nacht war er vor Angst wie gelähmt, weil er fürchtete, sämtliche
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