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Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug
Autoren: Gudenkauf
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von Verbrennungen dritten Grades. Außerdem war die verlorene Kreatur vor seinen Augen viel zu jung, um Holly zu sein. Aber sie hatte dieselbe blasse Haut, dieselben braunen Haare und auch die leichte Molligkeit. Weit entfernt davon, dick zu sein, war sie kompakt, wie ein gesundes Mädchen vom Land. Bei dem Gedanken musste er lächeln. Das hier war seine Enkelin, und einen Moment lang hatte Will gedacht, das hier wäre seine Chance, die Gelegenheit, seine widerspenstige Tochter zurückzugewinnen, die ihm die letzten fünfzehn Jahre aus dem Weg gegangen war, aus Gründen, die er bis heute nicht kannte.
    Seine Hoffnungen lösten sich schnell in Luft auf, als Marlys, stets in den unangebrachtesten Augenblicken emotional und laut, beim ersten Anblick ihrer Enkelkinder vor Freude anfing zu quietschten.
    »Augustine? P. J.?«, hatte sie so laut gefragt, dass die Köpfe der anderen Besucher zu ihr herumschnellten. Sie hatte die Arme ausgebreitet, damit die Kinder – so vermutete Will – von ihren Stühlen springen und sich in sie hineinwerfen könnten. Doch die beiden schauten nur mit großen Augen zu ihrer Großmutter, die, wie Will zugeben musste, schon ein Anblick war. Die Sorge um Holly, das hektische Packen, das Herumtelefonieren, um sicherzugehen, dass die Tiere auf der Farm versorgt wurden, hatten Marlys schon erschöpft, bevor sie Broken Branch überhaupt verlassen hatten. Dann der Flug, der allererste für Marlys, und die unbekannten Vorgänge hatten sie sich klein und unfähig fühlen lassen. Nachdem sie endlich in Revelation angekommen waren und sie das erste Mal ihre Enkelkinder sah, konnte Marlys ihre Gefühle nicht länger zurückhalten. Sie zog die erstarrten Kinder in ihre Arme, hielt sie dann auf Armeslänge von sich, um sie von oben bis unten zu mustern, und zog sie dann wieder an sich.
    »Wir sind eure Großeltern«, rief sie durch ihre Tränen. »Oh, sieh nur an, wie hübsch du bist«, sagte sie zu Augie, deren Mund sich zu einem kleinen Lächeln verzog. »Du siehst genauso aus, wie deine Mutter in deinem Alter ausgesehen hat. Und du.« Marlys wandte sich an P. J. und hob sein Kinn mit einem ledrigen Finger. »Was für ein attraktiver junger Mann du bist.« Tränen rannen über ihre runzeligen Wangen und fielen auf P. J.s nach oben gewandtes Gesicht. Der Junge zuckte nicht zurück und wischte sich auch nicht die Feuchtigkeit von der Stirn, sondern schaute seine Großmutter nur staunend an und warf dann einen unsicheren Blick zu seinem Großvater, der nur mit den Schultern zuckte, als wolle er sagen: »Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist.« Dann wandte Will seinen Blick zu Augie in der Hoffnung, diesen erhebenden Moment mit ihr zu teilen, doch ihn empfing nur ein anschuldigender, misstrauischer Blick. Holly hatte seine Enkelin bereits mit den Geschichten ihrer Kindheit gefüttert. Die anstrengende Arbeit, die Einsamkeit auf der Farm, die Diskussionen über Ausgehzeiten, die Ungerechtigkeit von alledem. Während Marlys die Kinder bemutterte, die die ihnen zuteilwerdende Aufmerksamkeit genießen zu schienen, trat Will ein paar Schritte zurück und machte sich auf die Suche nach einer Krankenschwester, die ihm etwas über den Zustand seiner Tochter sagen konnte.
    Jetzt, zwei Monate später, war er kein Stück weitergekommen, die Wand zu durchbrechen, die ihn von seiner Enkelin trennte. Und bei Gott, er hatte es versucht. Er verstand, wie schwer es für Augie sein musste, von ihrer Mutter getrennt zu sein, also hatte er ihr ausreichend Freiraum gegeben. Er hatte eine ganze Woche gewartet, bevor er ihr erklärte, dass die tägliche Arbeit ein wichtiger Teil des Farmlebens war und dass auch Augie dazu beitragen musste. Mit P. J. war es ganz leicht gewesen, er folgte seinem Großvater mit gespannter Aufmerksamkeit überallhin. Augie hingegen zog sich jeden Tag nach der Schule in ihr Zimmer zurück, das einst Hollys Kinderzimmer gewesen war, und kam erst am nächsten Morgen wieder heraus. Sie beantwortete Fragen mit einsilbigen Grunzlauten und weigerte sich, mit ihnen zusammen zu essen. Sie behauptete, Vegetarierin zu sein, und verachtete und verspottete ihn dafür, dass er ein Rinderzüchter war und Tiere zum Schlachten aufzog. Er ließ sich auf diese kleinen Scharmützel mit ihr gar nicht erst ein und versuchte, Geduld mit ihr zu haben. Obwohl er manchmal meinte, gleich aus Frustration zu platzen, schwor er sich, zu versuchen, sie langsam und freundlich zu erziehen. Allerdings machte sie es ihm
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