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Bis ich bei dir bin

Bis ich bei dir bin

Titel: Bis ich bei dir bin
Autoren: Emily Hainsworth
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Gesicht verzieht sich, und sie schlägt die Hände vor die Augen.
    Ich laufe weg. Denke nicht einmal an meine alte Verletzung, bis ich schon halb die Straße hinunter bin. Alles, was ich denken kann, ist: »Lauf, lauf, lauf, nichts wie weg!« Aber kann man vor seinem eigenen Gehirn davonlaufen? Ein stechender Schmerz fährt durch mein rechtes Bein, meine Muskeln verkrampfen sich und zwingen mich anzuhalten. Ich presse so fest die Kiefer aufeinander, dass die Sehnen in meinem Nacken schmerzmäßig mit dem Bein konkurrieren können. Dann blicke ich zurück, voller Angst, eine Vision von einem Geistermädchen zu sehen, das hinter mir herkommt.
    Doch ich bin allein.

VIER
    Z wei Monate, ein Tag.
    Nach der Hälfte meiner Schicht in Smith’s Lebensmittelmarkt am Samstag gebe ich auf und erlaube mir endlich nachzudenken. Der Schlaf hat die Erinnerung an das, was ich gesehen habe, nicht getilgt, und das Einsammeln von Einkaufswagen ist eine miserable Ablenkung. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, erwarte ich, das Mädchen zu sehen und ihre Stimme zu hören. Vielleicht habe ich mich getäuscht, und sie ist ein ganz normaler Mensch. Geister tragen keine Jeansjacken. Man würde sie wohl auch kaum für einen halten – wenn das mit dem durchscheinenden Grün nicht wäre. Ich versuche, mich auf die Kunden und den Parkplatz zu konzentrieren, aber mein Verstand springt immer wieder von den Reihen der Kunststoffkarren hin zu dem, was gestern Abend an der Ecke passiert oder nicht passiert ist.
    Am Ende war alles bloß Einbildung. Oder ein Traum, nur dass ich heute humpele, weil mein rechtes Bein wehtut – als wäre ich tatsächlich vor etwas davongelaufen.
    Oder bilde ich mir den Schmerz ebenfalls ein?
    Ich bin einfach nicht mit Vivs Todestag klargekommen, das ist alles. Es werden weitere Todestage folgen – drei Monate, vier, fünf, ein halbes Jahr, ein Jahr, doch daran will ich jetzt nicht denken. Eins nach dem anderen. Dr. Summers sagt, Stress kann die merkwürdigsten Dinge mit Menschen anstellen. Sie wird mich nie und nimmer in Ruhe lassen, wenn sie glaubt, dass ich Gespenster sehe und Stimmen höre.
    Ich könnte Dad anrufen.
    Der Gedanke trifft mich so unvorbereitet, dass ich beinahe mit einem Einkaufswagen kollidiere, den eine Frau in meine Richtung schiebt. Als ob ich mit ihm eine normale Unterhaltung führen könnte.
    Ich fädele meine Ohrhörer aus dem Kragen meiner Jacke und drehe die Lautstärke auf. Kein Gesang, nur Synthesizer, Schlagzeug und Bass. Jeder, der den Laden betritt oder verlässt, bewegt sich im Rhythmus der Musik in meinen Ohren. Nein, ich werde ihn nicht anrufen. Es gibt nichts zu erzählen. Ich hatte einfach wieder so einen verkorksten Traum von der Straßenecke wie ständig seit Vivs Tod. Ich knicke jetzt nicht ein. Humpelnd gehe ich hinüber zu den weiter abgelegenen Parkplätzen, sammele einen am Straßenrand zurückgelassenen Wagen ein und schiebe ihn mit Karacho in einen anderen.
    Ich würde ihn nicht mal anrufen, wenn das Mädchen, das ich gesehen habe, wirklich ein Geist wäre.
    Als ich Feierabend habe, gehe ich nicht gleich nach Hause, sondern laufe ohne Sinn und Ziel durch Fayetteville, nur von der Straßenecke und der Schule halte ich mich fern. Mein Wadenmuskel schmerzt noch, aber das Gehen wird ihn strecken. Vom Supermarkt aus laufe ich die First Avenue hinunter, vorbei an Imbisslokalen und zwei Einkaufszentren. Die Frittenbude Fast Break stinkt bis auf die Straße hinaus nach Chilifritten. Im Chez Artiste, wo Viv und ich uns zum ersten Mal geküsst haben, spielen sie Casablanca . Sie hat mal einen Sommer über dort gejobbt, weil es nahe am Smith’s Lebensmittelmarkt liegt. Wenn ich mit der Arbeit fertig war, hat sie mich manchmal in den Kinosaal geschmuggelt, wo wir uns dann mit Popcorn vollgestopft und Dialoge zu den ausländischen Filmen erfunden haben, statt die Untertitel zu lesen. Während des Abspanns hat sie immer meinen Nacken gestreichelt, um mir eine Gänsehaut zu machen, und ich habe die Linie ihrer Augenbrauen mit Küssen nachgezogen, nur um sie seufzen zu hören.
    Ohne es richtig zu merken, entferne ich mich von den hell erleuchteten Restaurants und Geschäften und folge der Straße, die irgendwann nicht mehr geteert ist, hinauf auf den höchsten Hügel der Umgebung. Der Wasserturm steht dort oben, Wächter über der Stadt. Sein massiger grauer Zylinder an sich ist kein Ausflugsziel, obwohl der Sockel mit bunten Graffiti überzogen ist, die bezeugen, wer alles dort war und
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