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Bernstein-Connection - Klausner, U: Bernstein-Connection

Bernstein-Connection - Klausner, U: Bernstein-Connection

Titel: Bernstein-Connection - Klausner, U: Bernstein-Connection
Autoren: Uwe Klausner
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gerade einmal ein paar Millimeter lang, würde ihn von sämtlichen Ängsten, Nöten und einer nicht enden wollenden Tortur befreien.
    Von nun an bis in Ewigkeit.
    Froh gelaunt wie schon lange nicht mehr, ließ der 33-jährige, kahl geschorene, knapp 1,80 Meter große Patient der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité die Kapsel wieder in seiner Brusttasche verschwinden, erhob sich und schlüpfte in seine Pantoffeln. Danach verrichtete er seine Morgentoilette. In all den Jahren, die er hier verbracht hatte, war er stets auf sein Äußeres bedacht gewesen. Die Frage, ob dies überhaupt einen Sinn ergab, war nicht aufgetaucht. Benjamin Kempa war nun einmal ein penibler Mensch. Und daran würde sich in der Stunde seines Todes nicht das Geringste ändern.
    Knapp fünf Minuten später, im Licht der Deckenlampe, die ihn noch eine Spur blasser erscheinen ließ, war es schließlich so weit. Der entscheidende, von Kempa geradezu herbeigesehnte Moment war gekommen. Der gelernte und für unheilbar schizophren erklärte Ingenieur betrachtete sein Konterfei, rieb die graublauen Augen und hängte das Handtuch wieder an seinen Platz. Durch das Zellenfenster zu seiner Rechten flutete das Licht der Morgendämmerung, aber darauf verschwendete der spröde Dresdener keinen Blick. Heute, am 16. Juni, war sein Todestag. Je eher er seine Absicht in die Tat umsetzen würde, desto besser.
    Im Begriff, sich wieder auf seine Pritsche zu legen, fiel Kempas Blick auf das Buch, welches neben ihm auf dem Nachttisch lag. Er kannte es fast auswendig, wie oft er es zur Hand genommen hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Genau genommen, wusste er nicht einmal, was genau ihn an seinem Inhalt so sehr faszinierte. Gehörte doch das, worum es sich in dem Buch drehte, unwiderruflich der Vergangenheit an. Einer Vergangenheit, an die er lieber nicht erinnert werden wollte.
    Oder etwa doch?
    Gegen seinen Willen und die Absicht, seinem Leben möglichst rasch ein Ende zu setzen, nahm der Insasse der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie das Buch zur Hand und blätterte es durch. Er wusste, was er tat, war sich im Klaren, dass sein sorgsam ausgetüftelter Plan dadurch in Gefahr geraten würde. In weniger als einer Viertelstunde, vielleicht schon früher, würde der Stationsarzt seine Runde machen. Spätestens bis dahin, so sein Kalkül, musste er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt haben. Sonst wäre alles umsonst gewesen und die Chance, über seine Widersacher zu triumphieren, ein für alle Mal vertan.
    Doch daran schien Kempa in diesem Moment keinen Gedanken zu verschwenden. »Der Stil des Bernsteinzimmers von Zarskoje Selo«, murmelte er halblaut vor sich hin, während sich sein Blick verklärte und an der gegenüberliegenden Zellenwand haften blieb, »ist ein Gemisch von Barock und Rokoko und ein wahres Wunder nicht nur durch den großen Wert des Materials, der kunstvollen Schnitzerei und der Leichtigkeit der Formen, sondern hauptsächlich durch den schönen, bald dunklen, bald hellen Ton des Bernsteins, der dem ganzen Zimmer einen unaussprechlichen Reiz verleiht.« Er kannte den Text auswendig, in der Tat. Wort für Wort, Zeile für Zeile, jedes einzelne Kapitel. Ausgerechnet er, der er sich mit dem Auswendiglernen stets schwergetan hatte. »Rohde, Alfred«, rezitierte der schmächtige Bergwerkexperte wie in Trance, »Bernstein. Ein deutscher Werkstoff. Seine künstlerische Verarbeitung vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Erschienen in …«
    Ein Geräusch auf dem Gang, allem Anschein nach die Schritte mehrerer Personen, katapultierte den Insassen von Zelle 5 wieder in die Gegenwart zurück, und ein nervöses Flackern trat in sein hohlwangiges Gesicht. Die aufkeimende Hektik von Benjamin Kempa währte indes nur kurz. Kaum lag das Buch wieder an Ort und Stelle, hatte er die Giftkapsel geschluckt, deren Morphingehalt ausgereicht hätte, um drei Erwachsene zu töten, und sich mit entspanntem Lächeln auf seine Pritsche sinken lassen.
    Er würde ihre Pläne durchkreuzen, so oder so.
    »Na, wieder bei Kräften?«, schnarrte der Stationsarzt, die Hände vor der Brust verschränkt. »Oder fühlen wir uns am Ende wieder mal nicht …«
    »Kein Grund zur Sorge«, kam ihm Kempa zuvor, ein beseligtes Lächeln im Gesicht. »Mit meinen Wehwehchen ist es ein für alle Mal vorbei.«
    »Freut mich zu hören«, versetzte der wie aus dem Ei gepellte, mit Borsalino, dunklem Anzug und Seidenschal ausgestattete Begleiter des Stationsarztes, der wie der
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