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Berliner Aufklaerung - Roman

Berliner Aufklaerung - Roman

Titel: Berliner Aufklaerung - Roman
Autoren: Thea Dorn
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Zeigefinger auf sich, dann drückte er ihn Anja auf die Stirn und ließ ihn schließlich in einem vagen Halbkreis über das Institut hinwegfahren. »Der Tag ist gekommen.«
    Anja suchte in ihrer Jackentasche nach ein paar Groschen. Sie fand ein Markstück, das sie dem Instituts-Clochard in die Hand drückte. »Da, kauf dir davon ’nen Kaffee, bis es soweit ist.«
    Fridtjof blickte befremdet auf die kleine silberne Metallmünze.
    Die Irren hatte Anja schon immer als den besonderen Reiz des Instituts empfunden. Wenn diese im Foyer saßen, mußte sie stets an die Lobby eines Pharmakonzerns denken, der seine Nebenwirkungsgeschädigten zur Schau stellt. Doch seit heute war sich Anja nicht mehr so sicher, daß sich Neben- und Hauptwirkungen sauber trennen ließen.

GESCHWINDIGKEIT UND POLITIK
    Ein Lächeln überzog Anjas Gesicht, als sie Hektor sah, der brav vor dem Institut auf sie wartete. Hektor war ein neun Monate alter, nachtblauer Mercedes Sechshundert SEL mit schwarzen Ledersitzen und Nußholzarmaturen. Anjas Eltern waren vor einem knappen Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und hatten der einzigen Tochter eine Erbschaft hinterlassen, die sich zwar als niedriger erwies, als diese gehofft hatte, aber immerhin groß genug für die Erfüllung ihres zärtlichsten Wunsches war. Als erste Amtshandlung nach Testamentsverlesung und einigen kleinen Rechenarbeiten hatte Anja also die Bestellung dieses Wunderautos mit Sitzheizung, Klimatisierungsautomatik, Doppelverglasung und Achtzehn-Loch-Leichtmetallfelgen aufgegeben. Mit dem restlichen Geld hatte sie ein spezielles Erbschaftskonto angelegt, das nun Hektor gehörte, und von dem er – wenn keine größeren Zwischenfälle passierten – die nächsten drei Jahre würde leben können. Schließlich war Hektor gar nicht so gefräßig, wie man ihm nachsagte. Bei seinem Gewicht von über zwei Tonnen fand Anja die zwanzig Liter »Super bleifrei«, die er im Stadtverkehr schluckte, eigentlich recht bescheiden. Dennoch: der Tag, ab dem Hektor ihr die Haare vom Kopf fressen würde, rückte näher.
    Hektor startete mit sonorem Schnurren, offensichtlich dankbar, daß man ihn aus der peinlichen Nachbarschaft
der drei grün-weiß gepinselten Polizei-Ladas befreite.
    Der Verkehrsfunk meldete Stau auf allen Strecken. Anja überlegte, ob sie die nächste Stunde lieber in der Innenstadt oder auf der Stadtautobahn stehen würde. Sie entschied sich für letzteres. Stau auf der Autobahn war eine klare Sache.
    Das Radio hatte nicht zuviel versprochen. Bereits auf der Autobahnauffahrt am Breitenbachplatz regte sich nichts mehr. Aber Anja hatte Zeit. Die notorische Party-Stimme des RTL -Moderators verriet ihr, daß es in Berlin und Brandenburg jetzt fünfzehn Uhr sei. Anja mußte erst um sechzehn Uhr in ihrer Praxis sein.
    Nach zwanzig Semestern hatte sie die Hoffnung, daß Philosophie und klares Denken etwas miteinander zu tun hätten, endgültig fahrenlassen und ihr Studium an den Nagel gehängt. Ihrem ausgeprägten Sinn für Direktheit waren die geistigen Knoten, mit denen sich dieses Institut selbst fesselte, immer unerträglicher geworden. Da Anja nun aber nicht zu dem Genre Frau gehörte, das im Alter von dreißig, nach abgebrochenem Geisteswissenschaftsstudium, heiratete oder zur Fremdsprachensekretärin umschulte, hatte sie im vornehmen Berliner Stadtteil Halensee eine »Philosophische Praxis für Lebensfragen« gegründet. Das Geschäft lief zwar nicht gerade großartig, aber es gab doch einige reiche Sorgenkinder, auf die Anjas Werbespruch von der »diskursiven Verflüssigung Ihrer Lebensprobleme« tiefen Eindruck machte.
    Im Radio lockte an diesem Tag zum zweiten Mal: Go west, life is peaceful there, go west, in the open air, go west, where the skies are blue, go west, this is what we gonna do. Wenn Anja sich auf der Straße umblickte,
kam sie zu dem Entschluß, daß man diesen Song verbieten sollte. Es gab zu viele naive Skodas und Ladas, die dieses Lied auf dumme Gedanken brachte.
    Anja lehnte sich in Hektors breitem Fahrersitz zurück. Im allgemeinen wunderte es sie ja nicht, daß an diesem Institut ein Mord begangen worden war, an diesem Institut, in dem man stundenlang darüber diskutieren konnte, ob Tod und Leben immer entgegengesetzt sein müssen. Ebenso wunderte sie es im besonderen nicht, daß es Schreiner erwischt hatte. Er und seine Nietzsche-Mannen hatten um sich schon immer die Aura des Katastrophischen verbreitet, wenn sie mit ihren vom »Oh-Mensch«-Gebrülle
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