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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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aber keinen Durchzug gab und das Fenster viel zu klein war, hatte es nur wenig Linderung gebracht.
    Also los, entschied Krüger in seiner Not, öffnete den Spülkasten der Toilette und befeuchtete die Seife so lange, bis sie dichten Schaum erzeugte. Er rieb sich im Nebel des Insektengiftes so gut er konnte damit ein und machte sich daran, seinen Oberkörper durch das schmale Fenster zu pressen. Seine Haut riss dabei immer wieder ein und seine Rippen wurden schmerzhaft gequetscht. Doch die Verzweiflung trieb ihn trotz seiner Schmerzen weiter durch die enge Luke. Nachdem seine Arme, sein Kopf und der halbe Oberkörper bereits aus dem Fenster nach draußen hingen, musste er es jetzt noch schaffen, seinen restlichen Körper hindurchzuzwängen. Die Seife war dabei zwar hilfreich, doch am Holz des Fensterrahmens trieb er sich immer mehr Splitter unter die Haut, während sich sein Körper weiter so sehr quetschte, dass die Schmerzen der Wespenstiche dagegen vollkommen in den Hintergrund traten.
    Als Krüger es schließlich geschafft hatte, den breitesten Teil seines Körpers durch die schmale Öffnung zu zwängen, saß er nun im Fensterrahmen und sah nach unten. Acht Stockwerke. Das Fallrohr der Regenrinne konnte er zwar problemlos erreichen, doch eingeseift und entkräftet wie er war, wäre er nicht einmal zwei Stockwerke nach unten gekommen, bevor er in die Tiefe gestürzt und auf dem Asphalt der belebten Müllerstraße aufgeschlagen wäre.
    Ich muss aufs Dach, entschied er.
    Und während bereits die Sonne unterging, bemerkte niemand im Trubel der Weddinger Hauptstraße, dass ein nackter, blutender, von Wespen zerstochener Mann verzweifelt im achten Stock eines trostlosen Mietshauses versuchte, das rettende Dach zu erreichen.
    Jetzt saß er da. Die herbstlichen Temperaturen spielten keine Rolle mehr. Die Kälte war Krügers kleinstes Problem. Alles war genau so gekommen, wie der Fremde es von Anfang an geplant hatte.
    „Ein perfekt durchdachtes Spiel. Wenig Aufwand, schnelles Ergebnis. Hut ab“, sagte Krüger in Richtung Dachluke, nachdem er bemerkt hatte, dass sie sich wie erwartet geöffnet hatte und jemand zu ihm auf das Dach gekommen war. „Jetzt interessiert mich nur noch eins.“
    „Wie ich den zweiten Teil der Wette gewinne?“
    Er war nicht besonders auffällig gekleidet. Cordhose, weißes Hemd, leichte Herbstjacke. Man konnte ihn für einen Lehrer halten, vielleicht auch für einen Versicherungsagenten. Er war niemand, dessen Anblick einem spontan Angst einflößen würde. Ohne Hektik setzte er sich zu Krüger, zog zwei Dosen Bier hervor, öffnete sie und reichte eine davon seinem Gegenüber, bevor er selber aus der anderen zu trinken begann.
    „Alle haben sich dasselbe überlegt“, begann der Unbekannte, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte. „Was können wir tun, damit Krüger die Wohnung verlässt?“
    Der Angesprochene nickte leicht, während die kalte Luft seine Schmerzen linderte und das Bier seine trockene Kehle befeuchtete.
    „Außer Ihnen ist keiner drauf gekommen“, stimmte Krüger zu.
    „Wenn man will, dass jemand einen Ort verlässt, muss man ihn manchmal nur dazu zwingen, an diesem Ort zu bleiben.“
    „Sehr gut. Teil eins ist erfüllt: Ich habe die Wohnung verlassen.
    Aber Sie haben etwas vergessen“, bemerkte Krüger.
    „Sie meinen die Gesetze?“
    „Sie können mir gar nichts. Und das wissen Sie auch.“
    Der Fremde hatte mit dieser Reaktion gerechnet.
    „Wissen Sie, was das Problem mit Menschen wie Ihnen ist?“, begann er deshalb. „Sie halten sich für unwahrscheinlich schlau. Sie kennen die Gesetze und glauben, Sie könnten sie sich hinbiegen, wie es Ihnen gefällt. Sie ziehen in eine Wohnung ein, zahlen vom ersten Tag an keine Miete, reagieren nicht auf Mahnungen, und wenn der Vermieter mit einer Räumungsklage kommt, dann legen Sie Widerspruch ein und ziehen das Verfahren in die Länge. In der Zwischenzeit wohnen Sie nicht nur umsonst, sie verkaufen auch noch die gesamte Einrichtung. Einschließlich der Kabel und Rohre. Sie schlachten eine Wohnung aus, die Ihnen nicht gehört, und einen Tag, bevor der Gerichtsvollzieher endgültig mit dem Räumungsbescheid vor der Tür steht, sind Sie plötzlich über alle Berge und suchen einen neuen Dummen, der Ihnen seine Wohnung vermietet. Und wenn Sie wirklich mal geschnappt werden, reißen Sie die Hände hoch und sagen: Ich bin pleite, nichts zu holen.“
    Krüger war einer der dreistesten Mietnomaden, die es in Berlin gab.
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