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Berg der Legenden

Berg der Legenden

Titel: Berg der Legenden
Autoren: Jeffrey Archer
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seinem Freund Bullock plauderte. Doch wenn er seine Worte verstanden hätte, hätte er ihm wohl befohlen, bei ihm an der Spitze zu gehen. »Wir sehen uns dann im Lager, Guy!«
    In einem Punkt hatte Mr Deacon recht: Der Weg vom Berg hinunter war nicht nur anspruchsvoller als der Aufstieg, sondern auch gefährlicher, und er dauerte, wie der Lehrer vorausgesagt hatte, wesentlich länger.
    Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als Mr Deacon in das Lager stapfte, gefolgt von seiner tropfnassen und erschöpften Truppe. Sie trauten ihren Augen kaum: George Mallory saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden, trank Ingwerbier und las ein Buch.
    Guy Bullock begann zu lachen, doch Mr Deacon war alles andere als erfreut. Er ließ George strammstehen, während er eine ernste Standpauke über die Bedeutung von Sicherheit in den Bergen hielt. Sobald er mit seiner Tirade fertig war, befahl er George, seine Hose herunterzulassen und sich vorzubeugen. Mr Deacon hatte keinen Rohrstock zur Hand, also zog er seinen Ledergürtel aus, der seine Khakishorts hielt, und plazierte sechs Schläge auf die nackte Haut des Jungen. George gab keinen Laut von sich.
    Im ersten Licht des folgenden Tages begleitete Mr Deacon George zur nächsten Eisenbahnstation. Er kaufte ihm eine Fahrkarte und gab ihm einen Brief, den der Junge seinem Vater überreichen sollte, sobald er in Mobberley angekommen war.
    ***
    »Warum bist du schon so früh zurück?«, wollte Georges Vater wissen.
    George reichte ihm den Brief und verharrte in Schweigen, während Reverend Mallory den Umschlag aufriss und Mr Deacons Zeilen las. Er schürzte die Lippen und versuchte, ein Lächeln zu verbergen. Schließlich blickte er zu seinem Sohn hinunter und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Denk daran, mein Junge, in Zukunft etwas taktvoller zu sein. Und gib dir Mühe, keine Respektpersonen in Verlegenheit zu bringen.«
    1905

4
    Montag, 3. April 1905
    Die Familie saß am Frühstückstisch, als das Dienstmädchen den Raum betrat und die Morgenpost brachte. Sie legte die Briefe in einem kleinen Stapel neben Reverend Mallory, zusammen mit dem silbernen Brieföffner – ein Ritual, das sie jeden Morgen vollzog.
    Georges Vater ignorierte die Zeremonie geflissentlich, während er ein weiteres Stück Toast mit Butter bestrich. Er wusste sehr wohl, dass sein Sohn seit einigen Tagen auf das Trimesterzeugnis wartete. George gab sich gleichfalls ungezwungen, während er mit seinem Bruder über die jüngsten Heldentaten der Gebrüder Wright in Amerika plauderte.
    »Wenn ihr mich fragt«, warf ihre Mutter ein, »dann ist das nicht natürlich. Gott hat die Vögel geschaffen, um zu fliegen, nicht die Menschen. Und nimm die Ellenbogen vom Tisch, George.«
    Georges Vater beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, sondern sichtete die Umschläge und versuchte zu entscheiden, welche wichtig waren und welche zur Seite gelegt werden konnten. Nur eines war gewiss: Jeder Umschlag, der aussah, als enthielte er die Mahnung eines örtlichen Lieferanten, würde ganz unten im Stapel und mehrere Tage ungeöffnet bleiben.
    Reverend Mallory kam zu dem Schluss, dass zwei der Umschläge seiner sofortigen Aufmerksamkeit bedurften: Einer war in Winchester aufgegeben worden, und der zweite trug ein Wappen auf der Rückseite. Er nippte an seinem Tee und lächelte seinem ältesten Sohn zu, der immer noch vorgab, sich nicht für die Scharade zu interessieren, die am anderen Ende des Tisches stattfand.
    Schließlich nahm der Reverend den Brieföffner und schlitzte den dünneren der beiden Umschläge auf. Er zog einen Brief des Bischofs von Chester heraus und faltete ihn auseinander. Seine Exzellenz bestätigte, dass er mit Freuden in der Gemeindekirche von Mobberley predigen werde, vorausgesetzt, man fand einen geeigneten Termin. Georges Vater reichte den Brief an seine Gattin weiter. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie das Wappen des Bischofspalastes erkannte.
    Mit dem Öffnen des zweiten weitaus dickeren Umschlags ließ Reverend Mallory sich Zeit und gab vor, nicht zu bemerken, dass sämtliche Unterhaltungen am Tisch zum Erliegen gekommen waren. Sobald er das kleine Heft herausgezogen hatte, blätterte er langsam die Seiten durch und besah sich den Inhalt. Gelegentlich ließ er ein Lächelns sehen, dann ein eigentümliches Stirnrunzeln, doch obwohl sich das Schweigen in die Länge zog, verriet er nicht, was er dachte. Die Umstände waren zu außergewöhnlich für ihn, als dass er dieses Ereignis
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