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Berg der Legenden

Berg der Legenden

Titel: Berg der Legenden
Autoren: Jeffrey Archer
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Blick blieb an einer dünnen Zickzacklinie hängen, die sich den Berg hinaufschlängelte: das ausgetrocknete Bett eines Flusses, der neun Monate des Jahres träge den Berg hinunterplätschern musste – nicht jedoch heute. George verließ den Pfad, ignorierte die Pfeile und Wegweiser und lief zum Fuß des Berges. Ohne nachzudenken sprang er auf den ersten Grat, wie ein Turner einen hohen Balken erklimmen würde, und suchte sich behände seinen Weg, von sicheren Tritten über Felsvorsprünge bis zu Überhängen, ohne auch nur einmal zu zaudern oder hinabzublicken. Nur einmal, als er zu einem riesigen, zerklüfteten Felsen, dreihundert Meter oberhalb des Bergfußes, gelangte, hielt er inne. Er untersuchte das Terrain einen Moment, ehe er eine neue Route entdeckte und seinen Weg fortsetzte. Manchmal setzte er seinen Fuß in ausgetretene Vertiefungen, während er ein anderes Mal jungfräulichen Boden beschritt. Er hielt erst wieder inne, als er fast die Hälfte des Berges bezwungen hatte. Er sah auf die Uhr – sieben Minuten nach neun. Welche Höhe mochten Mr Deacon und der Rest der Gruppe inzwischen wohl erreicht haben?
    Vor sich machte George einen kaum erkennbaren Pfad aus, der den Eindruck erweckte, als würde er überhaupt nur von erfahrenen Bergsteigern oder Tieren genutzt. Er folgte ihm, bis er sich vor einer riesigen Granitwand wiederfand, einer verschlossenen Tür, die jeden, der keinen Schlüssel besaß, davon abhielt, den Gipfel zu erreichen. George überdachte kurz die Möglichkeiten, die sich ihm boten: Er konnte den Weg zurückgehen, den er gekommen war, oder er könnte die lange Route um die Granitwand herum nehmen, was ihn zweifelsohne zurück auf einen sicheren öffentlichen Fußweg bringen würde – beides würde indes den Aufstieg beträchtlich in die Länge ziehen. Doch dann lächelte er, als ein Schaf auf einem Felsvorsprung über ihm, das offenkundig nicht daran gewöhnt war, von Menschen gestört zu werden, ein schwermütiges Blöken hören ließ, ehe es davontrabte und dem Eindringling unbeabsichtigt die richtige Route verriet.
    George hielt nach der kleinsten Vertiefung Ausschau, in der seine Hand Halt finden würde, setzte einen Fuß hoch und begann mit dem Aufstieg. Er blickte nicht hinunter, während er langsam die senkrechte Felswand erklomm, immer auf der Suche nach Rissen und kleinen Felsvorsprüngen, die er gut greifen konnte. Sobald er einen guten Griff gefunden und sich hochgezogen hatte, nutzte er den Griff als Fußtritt. Obwohl der Felsen nicht höher als fünfzehn Meter sein konnte, brauchte George zwanzig Minuten, bis er sich endlich mit einem letzten Ruck über die Kante ziehen konnte und zum ersten Mal den Gipfel des Ben Nevis erblickte. Als Belohnung für die anspruchsvollere Route lag nun ein sanft ansteigender Hang vor ihm, der geradewegs bis zum Gipfel führte.
    Er trabte den kaum benutzten Pfad hinauf, und als er den Gipfel erreicht hatte, kam es ihm vor, als stünde er ganz oben auf der Welt. Es überraschte ihn nicht, dass Mr Deacon und der Rest der Gruppe noch nicht angekommen waren. Ganz allein saß er auf dem Berggipfel und betrachtete das Land, das sich meilenweit unter ihm erstreckte. Noch eine weitere Stunde verging, ehe Mr Deacon auftauchte, seine getreue Truppe im Schlepptau. Der Lehrer konnte seinen Ärger nicht verhehlen, während die anderen Jungen in Jubel ausbrachen und der einsamen Gestalt auf dem Gipfel Beifall zollten.
    Mr Deacon marschierte auf ihn zu und fragte gebieterisch: »Wie hast du es geschafft, uns zu überholen, Mallory?«
    »Ich habe Sie nicht überholt, Sir«, erwiderte George. »Ich habe nur eine andere Route gefunden.«
    Mr Deacons Gesichtsausdruck ließ den Rest der Klasse in keinerlei Zweifel darüber, dass er diesem Jungen keinen Glauben schenken wollte. »Wie ich dir bereits mehrfach gesagt habe, Mallory, der Abstieg ist stets schwieriger als der Aufstieg, nicht zuletzt deswegen, weil man bereits einige Kraft zum Erreichen des Gipfels aufwenden muss. Das ist etwas, was Neulinge meist übersehen.« Nach einer dramatischen Pause fügte er hinzu: »Oftmals zu ihren Ungunsten.« George behielt seine Meinung für sich. »Sorg also dafür, dass du beim Abstieg bei der Gruppe bleibst.«
    Nachdem die Jungs ihre Lunchpakete verschlungen hatten, ließ Mr Deacon sie in einer Reihe antreten, ehe er seinen Platz an der Spitze einnahm. Er brach jedoch erst auf, als er einen Blick auf George geworfen hatte, der inmitten der Gruppe stand und mit
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