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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages
Autoren: Sveva Casati Modignani
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dichter, und sie kam langsamer voran, trotzdem wurde Léonie nicht nervös. Sie wollte jede Sekunde auf dem Weg nach Varenna genießen.
    Das Städtchen empfing sie weihnachtlich geschmückt, nach Einbruch der Dunkelheit würden die Plätze und die engen, steilen Gässchen hell erstrahlen. Als sie zum See hinunterfuhr, sah sie das Vorgebirge von Bellagio. Der Himmel war bewölkt, und ein dichter nasskalter Nebel verhüllte das gegenüberliegende Ufer, hinter dem das dunkle Gebirgsmassiv aufragte.
    Im Schritttempo fuhr sie über den Kirchplatz – am Kirchturm funkelte ein silberner Komet –, bog in eine steil abfallende Straße ein und parkte auf einem winzigen Platz. Sie nahm ihre Tasche, stieg aus dem Wagen und lief eine Steintreppe hinunter, die auf eine Gasse vor einem alten Gebäude führte, das angeblich einst Theodolinde, die Königin der Langobarden, beherbergt hatte.
    Seit Langem war es ein Hotel mit wenigen, aber wunderschönen Zimmern, die auf den See hinausgingen.
    Plötzlich wich Léonies Euphorie einer vagen Nervosität. Dieses Jahr wird er nicht hier sein, dachte sie. Es geschieht so viel in so kurzer Zeit, und dann erst in einem Jahr!
    Sie blieb stehen und sah an der Fassade mit der Aufschrift HÔTEL DU LAC empor. Der kalte Wind schnitt ihr ins Gesicht, und durch die gläserne Eingangstür sah sie die hell erleuchtete Lobby. Vier Schritte, und sie wäre dort, aber vor lauter Angst, zu früh zu sein, wagte sie es nicht, sich zu rühren. Stattdessen beschloss sie, noch eine kleine Runde zu drehen.
    Die Gasse lag still und verlassen da. Sie ging nach rechts zur Aussichtsterrasse des Hotels mit dem Brunnen in der Mitte, den Eisentischchen, den steinernen Säulen, die ein kahles Tonnengewölbe trugen, und trat ans Geländer direkt über dem Wasser. Die Breva, der eiskalte Wind des Comer Sees, blies ihr ins Gesicht und in den Ausschnitt ihrer Steppjacke.
    Sie schlug den Kragen hoch.
    Sie sah ein Boot, das auf Bellagio zufuhr. Ein Taxi-Boot mit der Aufschrift GEORGE-TOUR. Es nahm Kurs auf die Villa Oleandra. Trotz der Kälte gab es auch an diesem Tag Leute, die aus weiter Ferne einen Blick auf George Clooneys Villa erhaschen wollten, nur um sagen zu können: »Ich habe das Haus des Schauspielers gesehen.«
    Auf die Aussichtsterrasse ging auch die Hotelbar hinaus, in der ein Kellner Tassen und Gläser in ein Abtropfgestell räumte. Léonie stand fröstelnd draußen und überlegte, ob er wohl eine Nachricht an der Rezeption hinterlegt hatte. Aber wenn sie nicht hineinging, würde sie das nie erfahren.
    Entschlossen drückte sie die Klinke einer der Terrassentüren hinunter und betrat die Bar.
    Wärme schlug ihr entgegen, und der junge Barmann sagte: »Sie wünschen?«
    Â»Ich will nur zur Rezeption.« Léonie ging in die Lobby.
    Hinter dem Tresen entdeckte sie die Besitzerin, die sie erkannte.
    Â»Schön, Sie wiederzusehen, Signora«, begrüßte sie sie.
    Â»Danke, gleichfalls«, sagte Léonie lächelnd.
    Â»Hatten Sie eine gute Reise? Mein Mann hat erzählt, dass ziemlich viel los ist auf den Straßen«, bemerkte die Frau.
    Â»Der übliche Weihnachtsverkehr«, erwiderte Léonie.
    Â»Haben Sie den tückischen Wind gespürt? Gestern Abend der Tivano, heute die Breva … Noch schneit es nicht«, meinte die Besitzerin und gab ihr den Schlüssel für die Suite. »Soll ich Sie vom Portier begleiten lassen?«
    Â»Danke, ich kenne den Weg«, erwiderte Léonie lächelnd.
    Sie nahm die Stufen in den ersten Stock und blieb vor der ihr vertrauten Suite stehen. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und betrat den winzigen Flur.
    Sie nahm einen Hauch Vetiverduft wahr, und ihr Herz machte einen Purzelbaum. Sie ging in den Salon, als er ihr auch schon entgegenkam. Er sah sie zärtlich an. » Bonjour, Léonie.«
    Â» Bonjour, Roger«, flüsterte sie.
    Und schon lagen sie sich in den Armen.

4
    W as ist, weinst du?«, fragte Roger und nahm Léonies Gesichtin beide Hände.
    Â»Nur ein paar Tränen … Weißt du eigentlich, wie verrückt wir sind? Wir sehen uns nur einen Tag im Jahr, und die restlichen dreihundertvierundsechzig wissen wir nicht das Geringste vom anderen.«
    Â»Wenn du wüsstest, wie oft ich gern heimlich deine Handtasche nach einem Ausweis oder einem Kalender mit deiner Adresse und Telefonnummer
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